Wie Europa energetisch in die Ecke getrieben wurde – Synopse

Die Energieversorgung besonders eines so “unisoliert” gelegenen Landstrichs wie dem Westzipfel der eurasischen Landmasse ist kompliziert und selbst das hier betrachtete Erdgas setzt sich aus einem Dutzend größeren Subthemen bzw. -fragestellungen zusammen. Vereinfachung tut also not, ebenso wie eine nicht-technische Sprache, will man von den  99,9 % Nicht-Experten potenziell verstanden werden. Hier der Versuch einer Zusammenfassung, NatGas in Europe for Dummies sozusagen.

Zunächst wäre es gut, zu wissen, warum Erdgas speziell für die Energiezukunft Ostmitteleuropas eine so große Rolle spielt, denn auf den ersten Blick ist der aktuelle Beitrag von Gas zum EU-Primärenergiemix ja nicht überragend.

Hier eine Grafik aus einem früheren staatsstreich-Posting, das sich mit dem bevorstehenden Ölversorgungscrash auseinandersetzt.

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Die Daten kommen von der EU, die von mir selbst angebrachte Ellipse ist im aktuellen Zusammenhang nicht (primär) wichtig – ich bin nur zu faul die Torte noch einmal zu zeichnen.

22 Prozent Primärenergie-Gas scheinen beachtlich, aber “nicht die Welt zu sein”.

Erdgas ist in mancher Hinsicht jedoch wichtiger als Erdöl, denn

      • es wird speziell im Norden sowie im kontinentalen Ostmitteleuropa zum Heizen verwendet, was für das Überleben der dortigen Bewohner wichtiger ist als z.B. in Andalusien.
      • Und es wird – wie sich dieser Blogger ziemlich sicher ist – pro futuro von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung eines funktionierenden Stromnetzes sowie einer (“biophysischen”) industriellen Produktion (“Prozesswärme”) sein. Ersteres hat mehrere Gründe, die hier nicht einzeln erläutert werden können. Die Stichworte ungelöstes Speicherproblem/Intermittenz erneuerbarer Energien, phasing out von Kernkraft (Spaltung) sowie inkrementeller Verzicht auf Kohle mögen genügen.

Erdgas ist also der einzige in Mitteleuropa noch einigermaßen akzeptierte nicht-erneuerbae Energieträger, der – wenigstens auf ein paar Jahrzehnte – genug grundlastfähigen Strom liefern könnte um die absehbaren anderen Produktionsausfälle zu kompensieren.

Erdgas hat ferner, wie manche meinen, das Potenzial einer Brückentechnologie, zwischen dem “fossilen Zeitalter” und dem Energieregime, das danach kommen wird (wie immer man es nennen mag).

Dummerweise wird aber die Erdgasversorgung in “der EU” nachgereiht bzw. torpediert, offenbar wegen  einer Mischung aus Geopolitik, Inkompetenz, Illusionen und Korruption.

Um den Karriereanfang von Gas in Westeuropa nachzuzeichnen, muss man in die Zeitgeschichte eintauchen und bis zum Kalten Krieg, in die Zeit der 1960er und 1970er zurückgehen.

Historie des Erdgases

In einem vor eineinhalb Jahren geschriebenem Posting habe ich diese Anfänge angerissen und wer es genauer bzw. anders wissen will, geht den dabei verwendeten fachhistorischen Texten nach (Högselius, Kandiyoti).

Damals hat die Sowjetunion (auch) ihre noch riesigen Gasreserven u.a. in Westsibirien erschlossen und dabei über Jahrzehnte hinweg eine Exportinfrastruktur nach Westeuropa aufgebaut –

was indirekt eine immer größere Nachfrage zur Folge hatte. Russland wurde dadurch bis heute zum unangefochten größten außereuropäischen Gaslieferanten der EU-Staaten (37% im Jahr 2017)

Das war im Kalten Krieg noch kein großes Problem, weil

  • der Anteil des sowjetischen Gases noch nicht allzu groß war und
  • die Sowjetunion selbst bei extremen geopolitischen Spannungen pünktlich geliefert hat. Vielleicht wg. “Liefertreue”, wahrscheinlich aber, weil man die westeuropäischen Devisen benötigte, die kostspieligen Entwicklungsinvestitionen schützen wollte und weil es damals noch keinen potenziellen Konkurrenten für das nach Europa gelieferte Erdgas gab (wie heute China).

Diese Sicht der Dinge änderte sich erstmals etwa 10 Jahre nach dem 1991 erfolgten Zusammenbruch der Sowjetunion, als Wladimir Putin schon zwei, drei Jahre Präsident und nachdem klar geworden war, dass die Kohlenwasserstoffe Russlands künftig nicht von “mit dem Westen befreundeten Oligarchen” bzw. deren Hintermännern kontrolliert werden würden.

Damals begann man in den USA und Brüssel über die Diversifizierung der europäischen Erdgasimporte nachzudenken, befeuert auch vom Gedanken, dass die Verbrennung von Erdgas relativ wenig CO2 freisetzt und dass Erdgas daher als klimaschonende Zukunftsenergie einzustufen ist.

Brüssel & Co. wollten aber auch nicht von den Russen abhängig sein, denen man gleichzeitg geopolitisch und militärstrategisch auf den Pelz rückte, durch das EU-enlargenent sowie – vor allem – die NATO-Osterweiterung, praktisch bis vor die Haustüre von St. Peterburg.

Die Utopie des Michael Gorbatschow vom Gemeinsamen Haus Europa war schon lang vorher abgesagt worden;

und das, was ursprünglich ein legitimes Sicherheitsbedürfnis osteuropäischer ehemaliger COMECON-Vasallen war, begann zunehmend als feindlicher Aufmarsch des Westens gegen Russland auszusehen – Napoleon & Hitler 2.0, wenn man so will.

Aber noch war die Zeit nicht reif für Kanonen.

Energiepartnerschaft vs. Diversifikation

Die Ukraine war seit 1991 zwar als selbstständiger Staat abgespalten, aber der Kampf um diesen westlichsten Teil (und historische Wiege) Russlands war noch nicht entschieden.

Die Schlacht tobte 20 Jahre, von Leonid Krawtschuk bis Wiktor Janukowytsch.

Lange bevor die Geschichte bei Letzterem noch angekommen war, im Jahr 2002, begann die Kommission mit ihrer Suche nach alternativen Versorgern – zu einem Zeitpunkt, als das britische und norwegische Gas in der Nordsee noch blubberte und noch niemand die Energiepartnerschaft mit Russland ernsthaft in Frage stellen wollte.

Brüssel genehmigte das Nabucco-Projekt, eine Pipeline, die “aserisch-turkmenisches” Gas aus dem Kaspischen Raum nach Europa führen sollte.

Das wurde damals, vor LNG und shale gas, in der EU unter “Diversifikation” verstanden und war eigentlich gar nicht dumm.

Diversfikation von Lieferanten ist an und für sich ja nichts Unvernünftiges.

Bevor die Nabucco zehn Jahre später an Lieferanten-Mangel zugrunde ging, kam es freilich zu mehreren Krisen in der traditionellen russischen Struktur für den Europa-Export – den ukrainischen Gaskrisen  der Jahre 2006, 2009 sowie schließlich 2014.

Bei denen passierte den Endabnehmern gar nichts Konkretes, die Krisen wurden in der westeuropäischen Öffentlichkeit aber als dramatisch empfunden.

Der Kern der Krisen war, dass die Ukraine, ein zentrales Transitland, durch die die Druschba führt, Erdgas-Schulden bei Russland aufgehäuft hat und russisches Gas gestohlen haben soll.

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Quelle: Onno, Wiki Commons

Die europäiachen Abnehmerländer jedenfalls empfanden ihre Versorgungssicherheit als bedroht und in Russland (und der GUS) wuchs die Entschlossenheit, die Ukraine als Transitland zu umgehen – was bis zur völligen Einstellung der Gaslieferungen führen kann (die Tarnbezeichnung dafür war manchmal “Diversifikation der Transportrouten”).

Die Ukraine wollte und will das um jeden Preis verhindern – wegen Durchleitungsgebühren, der eigenen Gasversorgung, wohl aber auch wegen des machtpolitischen Hebels, den man in dieser Lage zu haben glaubt(e).

Grundsätzlich hat es diesen Interessensgegensatz zwischen der Ukraine und Russland auch zu Zeiten gegeben, als sozusagen prorussische Kräfte in der Ukraine an der Macht waren, also beispielsweise Janukowytschs Partei der Regionen -

aber die taten sich mit Moskau leichter, was z.B. die Verhandlung von Lieferverträgen betraf und sie waren offenbar auch bereit, einen guten Gaspreis z.B. mit der Verlängerung der russischen Marinebasis auf der Krim bis ins Jahr 2042 abzutauschen.

Von solchen quasi ererbten, “harten militärtrategischen Fragen” abgesehen, scheint Moskau bereit gewesen zu sein, mit einer unabhängigen, aber “neutralen” Ukraine zu leben.

Zwischen Neutralität und westlicher Aufmarschzone

All das änderte sich abrupt und möglicherweise nachhaltig 2013/14, als Janukowytsch mithilfe von USA, Israel und der EU weggeputscht wurde.

Die Ereignisse von damals sind sicher noch frisch in Erinnerung, wenngleich von Kommentatoren äußerst unterschiedlich interpretiert.

Martina Grabau hat deren Abfolge und Vorgeschichte in ihrer 2017 gedruckten Dissertation gut zusammengefasst (ab  S. 319)

Sie sieht den Konflikt als “Integrationskonkurrenz” zwischen EU und Russland, was ein wichtiger Aspekt (aber wohl nicht die ganze Wahrheit) ist und unterstreicht mit einem spieltheoretischen Modell, dass sich die europäischen (Erdgas-)Außenpolitiken gegenüber Russland vorher und danach markant unterscheiden.

Ihre Aufarbeitung des öffentlich vorhandenen fachlichen und journalistischen Materials (nur westliche bzw. deutsche Zeitungen) bringt viel Licht auch in die Perspektive eines interessierten Beobachters von dritter Seite und das ist ein großes Verdient.

Grabau greift m.E. nach nur zu kurz, wenn sie nicht (genügend) berücksichtigt, was seit 1991 in Russland, der Ukraine und Osteuropa geschehen ist.

Speziell die Rolle des Großen Bruders von jenseits des Atlantik wird mit Schweigen übergangen (diese ist mit öffentlich zugänglichem Material vielleicht auch nur schwer erfassbar).

Nicht ganz zutreffend ist auch die Darstellung, dass der EU-Wille zur Diversifizierung erst nach Ukraine-Krise und Krim-Abspaltung so richtig zum Tragen gekommen sei.

Die Kommission konnte nach dem Dritten Energiepaket nur sichtbarer als zuvor agieren und offen und öffentlich Obstruktion gegen weitere russische Erdgasleitungen betreiben (siehe z.B. Grabau zum Ende der South Stream und dessen Vorgeschichte auf EU-Seite).

Aber die Kommission hat davor schon lange Zeit die Nabucco protegiert und ist später auf die TAP/TANAP ungeschwenkt, die ja erst 2020 in Betrieb gehen soll.

Diese ist ja auch ein Diversifikationsvorhaben. Und möglicherweise hat die Kommission in Syrien stärker mitgemischt als bisher bekannt, um Erdgas aus Katar auch politisch-militärisch den Weg nach Europa zu ebnen.    :mrgreen:     

Jedenfalls haben die Russen South Stream Ende 2014 eingestellt, während Berlin und Moskau gegen den Widerstand Brüssels und Polens Nordstream 2 fertigstellen.

Offenbar gibt es in Deutschland ebenso scharfäugige wie durchsetzungsfähige Interessen, denen das Hemd näher ist als der Rock und die bereit sind, die Mondmännchen-Energiepolitik ihrer Regierungschefin zu konterkarieren (die sie z.B. in der “EU-Integrationspolitik” unterstützen).

Eine Frage aus deutscher Sicht ist sicherlich, inwieweit man den Russen trauen kann. Eine andere aber, ob die Anfälligkeit ihrer Energiewende für Mega-Illusionen nicht womöglich schädlicher ist als riskante Energie-Deals mit Moskau.

Das Hauptproblem besteht – allgemeiner formuliert – darin, dass sich von shale gas bis LNG hier wahrscheinlich alles als illusorisch erweisen wird und kein Gas heute offenbar als besser empfunden wird als russisches Gas.

Literatur:

Martina Grabau, Gas Games. Der Wandel der europäischen Erdgasaußenpolitik infolge der Ukraine-Krise. 2017

Lars-Christian U. Talseth, The Politics of Power. EU-Russia Energy Relations in the 21st Century. 2017

Unabhängiger Journalist

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