Wie man Erinnerungen umpudert

Die Medien beginnen zu behaupten, russisches Militär sei im vergangenen August in die Ukraine einmarschiert und habe einen militärischen Sieg der Zentralregierung im Osten des Landes verhindert. Das ist eine Version der Geschehnisse, für die keine nennenswerten Belege existieren.

“He who controls the past controls the future. He who controls the present controls the past.” George Orwell

In Psychologie/Soziologie existiert seit einem halben Jahrhundert der Begriff der kollektiven Erinnerung, der die historische Erinnerung eines Kollektivs, also z.B. einer Nation bezeichnet. Dieser Begriff hat eine ganze Reihe anderer Begriffe erzeugt, die ihm ähnlich, aber nicht mit ihm deckungsgleich sind: die öffentliche Erinnerung (public memory) beispielsweise, die in Denkmälern oder Gedenktagen ihren Ausdruck findet, oder die “kulturelle Erinnerung”, von der sich mittlerweile Generationen von Geisteswissenschaftlern zu ernähren scheinen.

Keiner dieser Termini hat mit dem Erinnerungsvermögen oder konkreten Gedächtnisinhalten von Individuen zu tun. Es geht um keine psychologischen oder hirnphysiologischen Kategorien.

Und natürlich gibt es analog dazu auch die mediale Erinnerung, bei der Zeitungen und Fernsehen Geschehenes memorieren und dieses an ihre Leser/Seher weitergeben.

Eine solche Erinnerung ist auch nicht sakrosankt und unveränderlich, etwas, das sozusagen an und für sich existiert. Es bildet und verändert sich aus dem Austausch zwischen den erinnernden Personen bzw. Institutionen. Es ist eine Art Destillat, das mehr oder weniger urwüchsig entsteht, das sich in einer freien Gesellschaft aber “spontan” verändern sollte. Vielleicht auch nicht wirklich spontan, sondern möglichst unbeeinflusst im Rhythmus der neu gewonnenen Erkenntnisse über die eigene Vergangenheit.

Theoretisch. Es ist aber klar, dass das in Denkmälern und Zeitungsartikeln erinnerte Geschehen nie “die historische Wahrheit” ist, sondern immer eine Rekonstruktion, die dem tatsächlichen Geschehen mehr oder weniger nahe kommt und die dieses besser oder schlechter repräsentiert. Unverbildeten Leuten ist – oft deutlicher als Intellektuellen – bewusst, dass Politik, Wirtschaft, Zeitungsleute, etc. ein starkes Interesse daran haben, diesen Prozess zu beeinflussen oder gar zu steuern. Zu ihrem eigenen Vorteil bzw. zu Nutz und Frommen jener Interessengruppen, denen die Erinnernden – z.B. Journalisten – nahestehen oder denen sie gar verpflichtet sind. Dafür stehen eine Reihe von Techniken zur Auswahl.

Ende der Vorrede.

Das ist, worauf ich konkret hinauswill: Für die Mainstream in den USA und Europa scheint es inzwischen eine ausgemachte Sache zu sein, dass die ukrainischen Regierungstruppen im vergangenen August vor dem militärischen Sieg gestanden sind, dass eine Militärintervention der Russen sie aber um diesen gebracht hat.

Behauptungen in diese Richtung werden nicht einmal mehr mit einem Fragezeichen oder einer Quellenangabe versehen wie z.B. “….sagte der ukrainische Verteidigungsminister” oder “…sagte der NATO-Generalsekretär.” Das wird sozusagen als Faktum etabliert, generalstabsmäßig geplant, wie wir Verschwörungstheoretiker überzeugt sind. (PR-Agenturen werden für so etwas bezahlt, gelle!?). Es bleibt trotzdem eine eklatant falsche, gefälschte Erinnerung.

Ein kleines Beispiel dafür findet sich in folgendem Text der Washington Post, eines medialen Leitwolfs, der – meist mit ein paar Tagen Verspätung – von den amerikanischen und europäischen Rudeltieren nachgeahmt wird. Das Zitat findet sich hier.

Washington_Post

Dieser Satz lautet auf Deutsch: “Von Russland unterstützte Kräfte haben ihr Gebiet (seit dem Waffenstillstand) vergrößert, nachdem ihnen dieses von der ukrainischen Regierung überlassen wurde, deren Armee von einmarschierenden russischen Truppen in die Flucht geschlagen worden war.”

Diese Form von Tatsachenbehauptung ist neu. Formal gesehen begeht die Wapo damit auch keinen Regelverstoß, weil sie die Behauptung als Kommentar, sozusagen als eigene Meinung ausschildert (die Rudeltiere werden das nicht mehr tun.)

Wie alle anderen hat auch die Washington Post das Recht auf ihre eigene Meinung – nicht aber auf ihre eigenen Fakten.

Zugegeben: der Kern des Ganzen ist nicht ganz neu. Im August 2014 sprachen NATO und Kiew zwei- oder dreimal von einer direkten Militärintervention, wobei sie jedoch vom Wort “Invasion” Abstand nahmen – offenbar um nicht ganz unglaubwürdig zu werden. Sie benutzten lediglich den Begriff “incursion” (Einfall in ein fremdes Staatsgebiet).

Zu diesem Zeitpunkt beriefen sich alle seriösen Berichterstatter noch darauf, dass dies die Sichtweise einer Seite sei und die superseriösen von diesen fügten pflichtschuldig hinzu, dass die Russen das dementierten. Derlei scheint heute nicht mehr notwendig. Die Sichtweise der Guten von gestern ist die richtige Wahrheit von heute. Punktum.

Wie sieht nun die Faktenbasis aus, auf der die “Guten von gestern”, ihre Beschuldigung erhoben haben, russische Truppen seien in die Ukraine eingefallen ?

Am Anfang standen die Hilfskonvoys, die Moskau in die ethnisch-russischen Großstädte in der Ostukraine schickte. Diese könnten als Tarnung für eine Invasion dienen und müssten daher inspiziert werden, hieß es etwa bei Reuters.

humanitarin

Die Ukrainer taten das und fanden nichts Verdächtiges. Dessenungeachtet wurde die Aktion als Zeichen für die dahinter steckenden unlauteren Absichten interpretiert.

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Dass die Lkw noch dazu weiß angestrichen waren, zeigte nur, wie heimtückisch die Ruskis agierten. ;-)

Etwas später wurden zehn russische Fallschirmjäger auf ukrainischem Territorium gefangengenommen, gefilmt und in einer Pressekonferenz vorgeführt. Das ist das bis heute einzige ernstzunehmende, öffentlich zugängliche Beweisstück dafür, dass reguläres russisches Militär im westlichen Nachbarland operiert (hat). Die Paratroopers kamen aus Zentralrussland und wurden nach ihren Auskünften für eine dreitägige Mission in die Ukraine geschickt. Das russische Militär behauptete, seine Soldaten hätten sich verirrt – was im Navi/GPS-Zeitalter wenig glaubwürdig klingt. :-P

Dennoch: Eine militärische Intervention, die diesen Namen verdient, sieht anders aus. Eine solche würde, sagen wir, ein paar hundert Gefangene produzieren. Die Soldaten würden/könnten auch nicht aussagen, sie hätten einen Abstecher in das Nachbarland machen müssen.

Etwa um die gleiche Zeit wollten Reporter einer britischen Zeitung auf russischem Territorium Militärfahrzeuge gesehen haben, die in Richtung ukrainische Grenze fuhren. Das ukrainische Verteidigungsministerium berichtete (ohne Beweise vorzulegen) von fünf russischen Mannschaftstransportwägen, APCs, die salopp “Schlachtentaxis” genannt werden; also von gepanzerten Fahrzeugen, in denen theoretisch jeweils etwa 10 Soldaten Platz haben. (Statt zu marschieren wie früher, werden Soldaten heute in solchen “Taxis” zum Einsatz geführt.) Der Vorfall findet sich hier.

five_personal carriers

Das war’s dann aber auch schon mit den Beweisen für einen russischen “Einfall”. Es gab und gibt keine weiteren Filme oder Fotos von identifizierbaren Gefangenen und auch keine einigermaßen belastbaren Satellitenaufnahmen (die wirklich ukrainisches Territorium zeigen). Nichts, zilch, nada.

Kiew erklärte, die Russen würden den Aufständischen Waffen liefern – und das ist ausnahmsweise glaubwürdig (obwohl dort jeder mit russischen Waffen zu kämpfen scheint – vielleicht mit Ausnahme der Landsknechte aus dem Westen; und nicht einmal das ist sicher: die Kalaschnikow ist einer der wenigen Markenartikel, die aus Russland kommen). Die Waffenschieberei hat nach einer aus der Sowjetzeit stammenden Tauschbörse für Militärgüter den Decknamen Voentorg bekommen.

Wie viele Russen kämpfen nun wirklich auf der Seite der prorussischen Rebellen ?

Laut CNN sagt die NATO: wenigstens 1.000.

1000_russiansAndere NATO-Quellen meinen: 4 Battaillone zu je 400, also 1.600 Mann – was Moskau gemäß Ria Novosti abstreitet.

4Battalions

Nach allem, was über diese Leute durchgesickert ist, handelt es sich weitaus überwiegend nicht um reguläres russisches Militär. Sondern um Staatsbürger der Russischen Föderation (RF), die meist gar keine ethnischen Russen sind. Ein paar mögen auch Armeeangehörige “auf Urlaub” sein, der größere Teil setzt sich allerdings aus Idealisten, Glücksrittern und Typen zusammen, für die Töten und Getötetwerden “zum Lifestyle gehören”.

Angeblich wird auf russischem Territorium derzeit eine dreistellige Anzahl von brasilianischen “Internationalisten” für die Ostukraine ausgebildet und auch von anderswo treffen Freiwillige ein, die keine Staatsbürger der RF sind. Wann werden unsere Medien von einer brasilianischen Invasion in der Ostukraine berichten ? Oder darüber, dass Urenkel der Internationalen Brigaden, dem Ruf ihrer Ahnen folgen, um gegen Leute ins Feld zu ziehen, die unter Symbolen kämpfen, die schon die Nazis verwendet haben?

Die NATO gibt derzeit also an, dass 1.000 bis 1.600 Russen für die aufständischen Republiken in der Ostukraine kämpfen und es ist davon auszugehen, dass es sich dabei um Russen im obigen Sinn handelt. Aber wie viel oder wenig sind 1.000 bis 1.600 Kämpfer ?

Genaueres, verifizierbar Genaueres ist über die Stärke der Kampfmannschaften nicht bekannt. Groben Schätzungen zufolge stehen einander im Kriegstheater 40.000 reguläre ukrainische Soldaten (exklusive rechte Hilfstruppen und Söldner aus dem Westen) und 20.000 prorussische Rebellen gegenüber, wird beispielsweise hier berichtet:

Zahl_der_Kämpfer

Der Anteil der “Russen” an den prorussischen Kämpfern ist daher irgendwo zwischen 5 und 8 Prozent anzusetzen.

Auf der hier geschilderten Basis wollen die NATO und Kiew der westlichen Öffentlichkeit weismachen, russisches Militär sei beim westlichen Nachbarn eingefallen. Und Journalisten, die scheinbar des Lesens unkundig sind, fabrizieren daraus eine Invasionsarmee, die den Antiterror-Kämpfern aus Kiew vor der Nase den Sieg weggeschnappt haben soll.

Schreiberlinge wie diese sind vom gleichen Schlag wie die Leute, die die angebliche Putin-Drohung, binnen zwei Wochen Kiew erreichen zu können, als haltlose Prahlerei abtun. Was sagt uns das über die Urteilsfähigkeit dieser Menschen?

Die Sache mit dem Telefonat mit der Kommission ist, ehrlich gesagt, ziemlich dubios. Sollte Putin bei der Gelegenheit tatsächlich gedroht und sogar konkrete Zeitangaben gemacht haben, dann muss er sich in seinen diplomatischen Kontakten völlig anders aufführen als in der Öffentlichkeit. Dort scheint Putin nämlich prinzipiell nicht zu drohen. Er kündigt auch nichts an. Er agiert wie ein Judoka, der nicht haben möchte, dass der Gegner seine nächste Bewegung errät.

Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, wie westliche Politiker agieren. Vielleicht sind diese deswegen auf ihn so sauer.

P.S: Wer sich fragt, was “umpudern” bedeutet, kann hier nachschauen. Es ist jedenfalls nichts Unanständiges- :lol: 

 

 

 

 

Unabhängiger Journalist

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