Brexit: Der Triumphalismus der Remainer führt in die Irre

Die Schadenfreude über die vorgestrigen Niederlagen Boris Johnsons im britischen Unterhaus ließ ein völlig falsches Bild entstehen – das eines in die Ecke getriebenen Premiers, einer “lahmen Ente” par excellence. Doch wenn es Johnson gelingt, frühe Neuwahlen durchzusetzen sind “all bets off”. Dann könnte BoJo als Retter der britischen Souveränität (und der Conservative Party) in die Annalen eingehen.

Wie weithin berichtet, stimmte das House of Commons am Mittwoch für eine Vorlage der früheren Labour-Ministerin Hilary Benn, die Johnson verpflichtet, bei der EU um eine weitere Verschiebung des Brexit um drei Monate anzusuchen (über den bisherigen Stichtag hinaus, den 31. Oktober 2019).

Das wird allgemein als großer Sieg der “Remainer” angesehen, weil angenommen wird, dass das nur die erste einer Reihe ständiger Verschiebungen des Austritts wäre, die ad infinitum fortgesetzt werden kann.

Das freilich ist fragwürdig.

Ein solches Kalkül stimmt nur so lange als eine parlamentarische Mehrheit wie die vom 4. September derlei serielle Verschiebungen erzwingen kann.

Eine solche Majorität wird es nach der Abhaltung vorgezogener Neuwahlen womöglich aber nicht mehr geben.

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Anscheinend setzt Johnson auf vorgezogene Neuwahlen.

Er hofft, mit einer neu ausgerichteten, von “europhilen Dissidenten” gesäuberten Tory-Partei wieder die Mehrheit zu stellen – mit oder ohne Ulster Unionists.

Ob dieses Kalkül aufgehen wird, lässt sich aus Wien nur schwer beurteilen (unrealistisch sind die Überlegungen nicht).

Um Neuwahlen zu bekommen, sind die Tories offenbar bereit ein Opfer zu bringen und die einmalige Verschiebung des EU-Austritts auf den 31. Jänner hinzunehmen.

Die Geschichte mit dem auf mysteriöse Weise zusammengebrochenen Filibuster im britischen Oberhsaus spricht jedenfalls Bände.

Der Hintergrund: Damit das Benn-Gesetz rechtskräftig wird, muss das House of Lords diesem zustimmen (was bereits in die Wege geleitet ist).

Zuerst hatten die Tories im Oberhaus damit begonnen das Inkrafttreten der Bill zu verschleppen - doch  plötzlich brach ihr Filibuster ansatzlos in sich zusammen (Mike Shedlock schildert unter Berufung auf Eurointelligence hier die Szenerie).

Der Grund für das Verschwinden der lordschaftlichen Obstruktion ist laut Eurointelligence folgender (wiederum laut Mish):

“The government whip in the Lords actively encouraged members to get the Brexit-extension bill approved by Friday.”

Die Johnson-Tories haben kampfeslustige Oberhäusler ihrer Partei also “aktiv ermutigt” ihren hinhaltenden Widerstand aufzugeben. WTF?

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Dieses Vorgehen “macht freilich dann Sinn”, wenn man weiß, dass Labour seine Zustimmung zu einem Neuwahlantrag davon abhängig gemacht hat, dass die Benn-Bill Gesetzeskraft erlangt.

Und das ist  (rechtzeitig) nur dann der Fall, wenn die Lords dem Gesetz zugestimmt haben.

Es sieht also so aus, als würde Boris Johnson zu Jeremy Corbyn sagen:

WIR haben dafür gesorgt, dass die No Deal-Brexit-Blockade des Unterhauses rasch in Kraft tritt. Nun halte DU Dein Versprechen und sorge DU dafür, dass wir Neuwahlen bekommen.”

Natürlich ist bei Neuwahlen einiges möglich, auch negative Entwicklungen für Johnson – aber:

Die Mehrheit des britischen Wahlvolks scheint heute noch entschiedener als im Juni 2016 für einen EU-Austritt zu sein – und die zahlreichen europhilen Parlamentarier werden bei einem neuerlichen Urnengang einen schweren Stand haben (sofern sie überhaupt noch antreten).

Die Chancen europhile oder zweideutig agierende Gruppierungen bei Neuwahlen aufzureiben und danach einen “harten Brexit” durchzuführen, stehen gut, speziell unter dem britischen Mehrheitswahlrecht.

Ob Johnson das will, entzieht sich meiner Kenntnis.

Faktum ist aber, dass

  • Boris nun (ostentativ) gebundene Hände vorweisen kann und dass er daher nicht einmal vorgeben muss, er suche Neuverhandlungen mit Brüssel. Und
  • zweitens scheint er schon heute 20 Prozentpunkte von Nigel Farages Brexit-Partei zurückgewonnen zu haben – und auf gutem Weg zu sein, mit einer souveränistischen & “EU-feindlichen” Conservative Party die nächsten Wahlen zu gewinnen.

Ob Mish mit seiner Spekulation über den arkanen “Queen’s Consent” richtig liegt, entzieht sich der Beurteilung dieses Bloggers. 

Freilich ist die Frage, ob die Benn-Bill Mitte Oktober nun Bestand hat oder nicht, im “großen Bild” von nachrangiger Bedeutung.

Unabhängiger Journalist

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