Die europäische Erdgaskrise und ein “Glut” in einem warmen Herbst

Dutch_TTF
https://www.theice.com/

Die “Gaspreise” im Dutch TTF sind seit August um fast zwei Drittel zurück gegangen und das hat Interessenten veranlasst, voreilig das Ende der europäischen Erdgaskrise auszurufen. Eine Wiederaufnahme der russischen Erdgaslieferungen – 150 Mrd. m3 pro Jahr, gut ein Drittel des Gaskonsums  – ist freilich nach wie vor nicht absehbar. Die Probe, wie diese “Diät” dem, ahem, europäischen Patienten bekommen wird, hat noch nicht einmal begonnen.

Dieser Blogger hatte dieser Tage die Gelegenheit, einem jungen “Gashändler” zu lauschen, der die Möglichkeit in den Raum stellte, dass sich angesichts voller Speicher und ausgelasteter incoming Terminals in Europa eine Situation wie im April 2020 bei Öl wiederholen könnte

- und tatsächlich spricht einiges für ein zumindest ähnliches Szenario wie

  • eben die Kurse der Derivate
  • oder auch, dass LNG-Tanker neuerdings als schwimmende Speicher verwendet werden, siehe u.a. hier und hier.

Das sollte eigentlich nur Trader interessieren, die mit ordentlich Fremdkapital einen schnellen Schnitt machen wollen – egal, ob das auf dem Weg nach oben oder unten passiert

(der vortragende Gashändler warf übrigens noch eine Menge Halbwahrheiten über LNG aus Übersee und irgendwelche weißen Ritter aus Norwegen und Algerien in die Runde).

Wohnungsheizer oder Industrielle sollten ein anderes Erkenntnisinteresse haben.

Meinereins beispielsweise ist seit Jahrzehnten eine warme Stube auch im Winter gewöhnt und die “Kapitalisten” aus der produzierenden Wirtschaft brauchen Erdgas

für ihre Prozesswärme bzw. als Rohstoff

– im Dezember ebenso wie im Juli.

Zumindest war das bisher so.

Das könnte sich freilich gerade ändern.

Die aktuelle Diskussion kreist jedenfalls darum, ob die Knappheit auf geologische Limits zurück zu führen ist, oder auf illusionäre Außen- oder Energiepolitiken der Regierungen (oder alle Faktoren)

und alle Möglichkeiten könnten Folgen für Raumwärme und/oder Industrie-Produktion haben.

Egal wie die Antwort ausfällt – das extrem Energieimport-abhängige “Europa” ist in diesem fatalen Prozess vorne dabei – und mit diesem das industrielle Kraftwerk der Union, Deutschland.

Die Daten der BNetzA

Nun zeigt die Bundesnetzagentur seit einigen Wochen Daten zur Gasversorgung in Deutschland, die – wenn man sie entsprechend einordnet -

  • die Situation schlaglichtartig erhellen.
  • Diese Daten sind, wie ich meine, vertrauenswürdig weil schlüssig, in sich konsistent und mit dem viel älteren Datenstrom aus dem AGSI vereinbar, siehe hier. Die BNetzA-Werte, die eigentlich von von ihr regulierten Ferngasnetzbetreibern stammen, sind zu Grafiken verarbeitet, können bei Bedarf aber auch in Zahlenform “downgeloadet” werden. Der für diesen Blogger einzige Wermutstropfen ist, dass die Reihe erst 2022 beginnt und Vergleiche mit Vorjahren daher nicht möglich sind. Dazu kommen manche seltsamen Wortmeldungen der Agentur – aber das sind ja keine Daten.

Zunächst einmal: Deutschland hat 2021 rund 90,5 Mrd. m3 Erdgas verbraucht, aber nur 4,5 Milliarden davon selber produziert,

was bedeutet, dass es 95 Prozent seines Bedarfs importieren muss (das stammt noch aus der BP Statistical Review 2022, pp. 29 und 31).

Die Bundesnetzagentur zeigt in einer ihrer interaktiven Grafiken nun, wie sich die Importe 2022 über das bisherige Jahr verteilt haben und woher diese stamm(t)en.

Dabei ist nicht unbedingt von der Beschriftung/Farbe der Grafik-Linien auszugehen, weil diese nur das letzte Transitland vor Deutschland zeigen.

Russengas kommt (kam) also nicht nur direkt aus Russland (über die Ostsee/Nordstream 1), sondern auch über Tschechien.

Norwegisches Gas wieder fließt nicht nur direkt von Norwegen nach Emden, sondern auch über die Niederlande, die wohl als Zwischenstation für eine nach Belgien führende norwegische Pipeline fungieren.

Grundsätzlich freilich könnte sowohl Gas aus Holland als auch jenes aus Belgien von Leitungen aus N oder aus einer Regasifizierungsanlage in Belgien stammen

- und nicht einmal ein paar Kubikmeter aus Groningen etc. (NL) sind ganz auszuschließen. Hier findet sich eine Karte mit dem von Norwegen ausgehenden Pipeline-System.

Freilich kommt “Gas aus Belgien” gemäß BNetzA wahrscheinlich aus einem LNG-Terminal in Zeebrügge und wird gewissermaßen extra verpackt separat nach Deutschland verschickt (ist eine zoll- bzw. “außenhandelstechnische” Frage).

Erstens: das Russengas, dessen Zufluss zu Jahresbeginn noch ca. 2,3 TWh pro Tag ausgemacht hat (1.700 GWh über Nordstream und 600 bis 700 GWh über die Transgas), ist über zwei, drei Schritte auf heute null reduziert worden. Nach den BNetzA-Daten erfolgte der letzte Schritt Anfang August, obwohl die NS-Pipelines erst Ende September gesprengt worden sind.

Zweitens: die dadurch entstandene Versorgungslücke betrug zuletzt “nur mehr” rund 1.400 GWh täglich (Gesamtimporte minus Einfuhren aus Norwegen – direkt und über die Niederlande – sowie “Belgien”/LNG) , etwa 900 GWh konnten gegenüber der Importsituation zu Jahresbeginn wettgemacht werden.

Drittens: Die Verkleinerung besagter Importlücke könnte zumTeil auf etwas höhere Lieferungen aus Norwegen bzw. auf regasifiziertes LNG zurückzuführen sein. Größere “gamechanger” lassen die fraglichen drei flachen Kurven aber nicht erkennen.

Umgekehrt heißt das, dass das Gehampel der deutschen Außenpolitiker in Katar oder Afrika (noch) keine Früchte getragen hat

und ich würde davon ausgehen, dass das auch weiter so bleiben wird.

Viertens – und das sind, zugegeben, Folgerungen dieses Bloggers aus anderweitig erworbenem Wissen: Über die bisherige Verengung der Importlücke hinaus wird es keine “weißen Ritter” geben, die zu Hilfe eilen – aus unterschiedlichen Gründen.

  • Zunächst fehlt wenigstens für die kommenden Jahre Anlandungskapazität für zusätzliches Flüssiggas und
  • in den USA ist das Strohfeuer aus shale natgas sowieso gerade am Ausbrennen.
  • Zusätzliches LNG aus anderen Ländern ist in nennenswerten Quantitäten derzeit nicht erkennbar und
  • auch Norwegen wird sich mittelfristig der Depletion geschlagen geben müssen.
  • Europäisches Fracking schließlich scheint Fantasterei, würde aber, falls doch keine Fantasterei, mittelfristig auch keine Lösung darstellen (massive decline-Raten, die nur durch immer höheres Bohrtempo vorübergehend wettgemacht werden können).

Fünftens: der Gasverbrauch wird in den kommenden Monaten mit sinkenden Außentemperaturen eskalieren – und das wird von den Haushalten ausgehen, die auf’s Jahr gesehen sozusagen “Swing-Verbraucher” sind.

Die speziell in Deutschland so wichtige Industrie swingt zwar mit, aber nicht so stark. Einerseits hat der produzierende Sektor einen relativ konstanten Bedarf an Prozesswärme, muss im Winter andererseits aber auch Bürogebäude und Maschinenhallen heizen. Wie viel Gas für Turbinen zur Stromerzeugung  benötigt wird, teilt uns die BNetzA hier nicht mit.

Sechstens: Ob der im AGSI verzeichnete Storage-Wert ausreicht, um den kommenden Winter zu überstehen, ist eine speziell für Außenstehende schwer zu beantwortende Frage, denn

  • erstens kann niemand – auch kein “Insider” – wissen, wie hart und lang der kommende Winter wird. Klar ist nur, dass es unsinnig ist, aus einem warmen Oktober auf einen milden Winter zu schließen.
  • Und zweitens ist offen, wie “belastbar” die Storage-Werte sind.  Das können nur Regulatoren wie die BNetzA beurteilen, obwohl sie vielleicht aus Staatsräson ein Aug’  bei an sich anstehenden “Wertberichtigungen” bei geschuldeten Lieferungen zudrücken. Ähnliches ist ja schon mehrfach auf Banken- und Zentralbankenebene vorgekommen (und kommt weiterhin vor). Der im AGSI ausgewiesene Storage-Stand könnte also auch Kontrakte beinhalten, deren Erfüllung bisher ausgeblieben ist, oder die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr ausgeliefert werden.

Siebtens: die deutsche Versorgungslücke besteht jedenfalls weiter, wenn auch nicht ganz so groß wie z.B. im März.

Ob die Russen, achtens, nicht mehr liefern wollen oder dies nicht mehr können, muss weiterhin offen bleiben. Einerseits wäre es menschlich verständlich, wenn man mit offenen Feinden keinen weiteren Handel mehr treiben möchte, andererseits

wirken die russischen Begründungen für ihren Lieferstopp doch ziemlich fadenscheinig (für mich wenigstens).

Unabhängiger Journalist

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