In voller Sicht versteckt – Fragen zum Wahlmysterium in Österreich

Der Verfassungsgerichtshof wird nicht umhin können, den zweiten Wahlgang zum österreichischen Bundespräsidenten aufzuheben, weil die Zahl der eindeutig rechtswidrig ausgezählten/gewerteten Stimmen den Vorsprung des nach dem zweiten Wahlgang zum Sieger erklärten Kandidaten um ein Vielfaches übersteigt. Das ergibt eine Durchsicht der am Wochenende veröffentlichten Wahlanfechtung der FPÖ (vorausgesetzt, der VfGH sieht die angebotenen Beweise als valide an). Das von großem Fleiß zeugende Schriftstück geht jedoch mit keinem Wort auf das größte Mysterium ein – aus dem Nichts aufgetauchte, knapp 70.000 Wahlkarten. Nachbemerkung zu den Zeugen der Anklage.

Ich “widerrufe” daher eine hier abgegebene erste Einschätzung.

Bei der Beurteilung der FP-Eingabe sollte man sich aber keinesfalls auf die so genannte Vorsortierung von 573.000 Wahlkarten stürzen, die einen offenkundig schwachbrüstigen Einwand darstellt.

Mit Vorsortierung benennt man den Umstand, dass nicht zur Wahlbehörde zählende Helfer vor Beginn von deren Sitzung ca.31.000 Wahlkarten separiert haben, die, von außen erkennbar, nichtig waren (z.B. wegen fehlender Unterschrift oder Beschädigung des äußeren Kuverts, etc.).

Deren Bewertung verblieb aber bei der Wahlbehörde und maximal könnte man argumentieren, dass durch eine Zuordnung zum Stapel der Nichtigen die Wahrnehmung der Auszählenden beeinflusst würde. Böhmdorfer und Schender meinen, dass der Gesetzgeber eine Vorsortierung nicht zulässt, was eine sehr strikte Auslegung der Rechtslage ist.

Der Leiter der Wahlbehörde macht praktische Gründe dafür geltend, die Vorsortierung sei erfolgt, um den “Workflow  (der Auszählenden) zu erleichtern”.

Etwas viel Gravierenderes ist z.B., wenn die (äußeren) Kuverts vor dem Zusammentreten der Wahlbehörde bereits geöffnet und ihnen die inneren Kuverts entnommen gewesen sind oder gar schon ausgezählt waren.

Verstöße von diesem Kaliber sind nach Darstellung der FPÖ ebenfalls zu Hunderttausenden vorgekommen und wenn der VfGH die Dokumentierung dieser Fälle akzeptiert, kann er gar nicht anders als zu entscheiden: Zurück an den Start.

Ob mit “Start” die Wiederholung des zweiten Wahlgangs oder die erneute Auszählung der Briefwahlstimmen gemeint sind, vermag ich nicht einzuschätzen.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, ist hier eine Liste ziemlich eindeutiger Gesetzesverstöße bei der Auszählung. Quelle ist wieder die Wahlanfechtung Straches; ob alle der behaupteten Gesetzwidrigkeiten tatsächlich so stattgefunden haben, sei dahingestellt.

Rechtsverstöße bei Briefwahl, Öst. Bundespräsident. 2. Wahlgang
 Zahl
Vorzeitige Auszählung  30,295
Auszählung nicht durch BWB  58.374
Vorzeitige Entnahme Wahlkuverts  80.953
Vorzeitige Öffnung von Wahlkarten (Sortierung Gültige/Nichtige)  120.067

Allein in dieser Tabelle sind knapp 290.000 eindeutige Rechtsverstöße angeführt, wobei unklar ist, inwieweit in den Kategorien 3 und 4 eine Doppelzählung erfolgt ist.

Diese Verstöße sind, wenn sie erfolgt sind, alles andere als Nebensächlich- und Nichtigkeiten (und ich entschuldige mich für einen entsprechenden Sager hier).

Der Unterschied zwischen Van der Bellen und Hofer betrug jedenfalls nur 30.863 Stimmen. O-Ton Anfechtung: “Hätten sich nur 15.432 Wähler (…) anders entschieden, so wäre das Gesamtergebnis umgekehrt ausgefallen.”

***

Wenn es mit rechten Dingen zugeht, müsste diese Anfechtung also durchgehen, sagt mein (zugegebenermaßen) Laien-Verstand.

Das zentrale Mysterium dieser Wahl bleibt trotzdem ein anderes: die wundersame Wahlkartenvermehrung, auch wenn diese von der FPÖ in ihrer Eingabe an den VfGH nicht erwähnt wird.

Ich habe in früheren Einträgen bereits dazu geschrieben, etwa hier und hier.

Ich habe meine ursprüngliche Haltung dazu inzwischen insoweit modifiziert, als ich es für prinzipiell möglich halte, dass am Montagfrüh nachgemeldete Stimmen gesetzeskonform erst zu diesem Zeitpunkt bekanntgegeben wurden – trotz damit nicht verträglicher Passagen in der Nationalratswahlordnung.

Ich beharre aber darauf, dass es besagte Stimmenvermehrung gegeben hat und dass Wahlleiter Robert Stein in der ZiB2 vom 22. Mai auf Basis einer aus den Ländern gemeldeten Zahl der eingelangten Wahlkarten gesprochen hat

Ich beharre darauf zu erfahren, wie solch verspätete Meldungen möglich sind und was der Grund dafür ist, dass z.B. Wiener Bezirke nicht imstande sind, im Verlauf von drei Stunden in ihren Wahllokalen deponierte Karten einzuholen und zu melden.

Übertragungsprotokolle beweisen jedenfalls, dass es am Wahlabend flächendeckend solche Meldungen gemäß NRWO § 88 (2) gegeben hat und dass diese von den auszählenden Behörden nicht als fakultativ aufgefasst wurden.

Auch wenn diese Sofortmeldungen am Wahltag nicht im Bundespräsidentenwahlgesetz von 1971 erwähnt werden.

Nachbemerkung, 14.6., 6.45 Uhr: Die Unsicherheit besteht wohl darin, ob die Zeugen der Anklage nicht alle unglaubwürdig sind, weil sie dem begangenen Diebstahl schriftlich ihren Sanktus gegeben haben.

Unabhängiger Journalist

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