Österreich: Ein Total-Umfaller

Die “patriotische Wiener Regierung”, die demnächst angelobt wird, betritt höchstens insofern Neuland, als sie den Ausverkauf früherer Versprechen mit bisher nicht gekannter Schnelligkeit vorantreibt – zum Beispiel bei “direkter Demokratie”, EU und Asyl. Von den Anliegen, die im vergangenen Oktober zur “Abkehr der Wähler vom rotschwarzen Kartell” geführt haben, findet sich im neuen Regierungsprogramm so gut wie nichts. NB über das Mindestsicherungs-Gelaber.

Für “Brüssel” scheint nicht der geringste Grund zu bestehen, ein Kabinett dieses Zuschnitts zu verhindern.

Hier lässt sich der Koalitionspakt zunächst für “Kurz 1″ downloaden.

Das Papier zeigt auf 182 Seiten die Verlängerung der rotschwarzen Agenda – freilich ohne dass “Rot” an der Regierung beteiligt wäre.

Die Regierung Kurz-Strache wird auf Basis dieses Programms eine “krypto-schwarzrote Administration”, um deren Angelobung der Nicht-Sänger aus der Hofburg gar nicht herumkommen will.

Inhaltlich entspricht der Pakt so ziemlich genau dem Wahlergebnis, das dieser Blogger vor zwei Monaten unter dem Titel “Österreichs Rechtsruckerl” folgendermaßen beschrieben hat:

Real war nur eine leichte Akzentverschiebung in der politischen Mitte (…) Der zentristische Parteienblock, der die Zweite Republik defaultmäßig regiert hat, ist intakt geblieben bzw. sogar gestärkt worden. Nur die Führungsrolle wurde gewechselt. Die ÖVP hat jetzt 32 Prozent und die SPÖ unverändert 27 Prozent (…) Die FPÖ (…) hat pro forma gewonnen, ist faktisch aber gleich stark geblieben.”

Anfangs sah es für diesen Blogger noch so aus, als würden sich ÖVP und Sozialdemokraten gezwungenermaßen für eine weitere Legislatuperiode zusammenraufen – doch die Blauen haben sich in der Folge als so biegsam erwiesen, dass das nicht notwendig war.

Mein Fehler bestand darin, dass ich lange nicht glauben wollte, dass Strache und Kickl bereit sein würden, sich zentrale Wahlversprechen einfach abkaufen zu lassen – ohne großes Getöse und geziertes Getue.

Deshalb bin ich zumindest bis zum Abgang von Hans Peter Doskozil aus der Bundespolitik fest von einer (Neu)Auflage von “Schwarzrot” ausgegangen.

Ich bekenne heute: Das war ein Irrtum, eine gravierende Fehleinschätzung.

Der Volksabstimmungs-Betrug

Das negative Gesamturteil über das schwarzblaue Regierungsprogramm ließe sich – würde man ausreichend Arbeit investieren – auch in allen “Unterpunkten” wiederfinden (die “großkoalitionäre” Lösung zur   Kammerpflichtmitgliedschaft ist nur ein kleines Detail).

Hier sind lediglich drei Bemerkungen zu wirklich zentralen Themen, nämlich zu

  • “direkter Demokratie”,
  • EU und
  • Asyl.

Die FPÖ, speziell deren nicht zum Zug gekommener Präsidentschaftskandidat, haben laufend damit geworben, dass sie die direkte Demokratie ausbauen würden – zum Beispiel mit Volksbefragungen über wesentliche internationale Verträge wie CETA.

Implizit hat man damit auch versprochen, zu gegebener Zeit das wichtigste politische Veräumnis der Zweiten Republik zu applanieren.

Ein Thema, bei dem das zentristische Polit-Kartell zwei Jahrzehnte lang säumig war – der demokratisch einwandfreien Legitimierung des seit 1995 verfolgten “putschistischen EU-Kurses” (“Staatsstreich mit Salamischeiben-Taktik”, “Umgründung mit List und Tücke”).

Mehr dazu unter Punkt 2.

Die ÖVP – inklusive ihres künftigen Kanzlers – ist bisher nie ernsthaft für den Ausbau der direkten Demokratie eingetreten.

Weil sie das aber nicht offen sagen konnte, hat sie vor der staunenden Menge eine Fülle von “Surrogaten” ausgebreitet, die allesamt auf symbolische Politik, ein “verbessertes Petitionsrecht” hinauslaufen.

Das herrschende Politkartell wollte sich noch nie “ins Lenkrad greifen lassen” – schon gar nicht vom formalen Souverän dieses Staatswesens.

***

Welche Position nehmen Kurz-Strache nun konkret zu den Fragen der direkten Demokratie ein?

Dies ist ein Thema, das um um Zehnerpotenzen bedeutsamer ist als z.B. die Frage, unter welchen Umständen, in welchen Wirtshäusern künftig geraucht werden darf.

Dazu eine – inhaltlich korrekte – Zusammenfassung durch einen APA-Journalisten, erschienen auf orf.at:

In Sachen direkter Demokratie haben sich ÖVP und FPÖ auf die Weiterentwicklung von Volksbegehren geeinigt (…) In einem ersten Schritt sollen künftig 100.000 Wahlberechtigte echte Gesetzesinitiativen starten können, der Ausbau von Volksabstimmungen wird vorerst vertagt.”

Das ist Salzamt pur, denn österreichische Volksbegehren sind, wie z.B. von Wikipedia erläutert, ein

unverbindliche(s) Instrument …(und) daher formal betrachtet eine Volkspetition.”

Auch künftig wird es “dem Parlament” freistehen, derartige Gesetzesinitiativen von unten  “niederzustimmen” (sie dürfen nur nicht mehr formlos weggeworfen werden).

Ein Täuschungsmanöver ist auch die im Regierungsprogramm verankerte “echte Gesetzesinitiative” ab einer Schwelle von 100.000 Unterstützern.

Dies ist nichts anderes als eine Variante der schon bisher geübten  Schubladisierung von Volksbegehren.

Das alles ist freilich nicht neu; dass eine Parlamentsmehrheit Gesetzesanträge ablehnen darf , betraf  in den vergangenen 70 Jahren auch schon die Opposition.

Hätte dieser Blogger für jeden nicht angenommenen Gesetzesantrag einen Euro bekommen, wäre er heute ein reicher Mann.   :mrgreen:

Der EU-Betrug

Eine bindende Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft soll auch unter Kurz und Strache unter keinen Umständen stattfinden, weil die reale Gefahr besteht, dass deren Ergebnis die Regierung dazu zwingt, Verhandlungen über einen Austritt aus der Union aufzunehmen, wie Theresa May in Großbritannien.

Daher hat “Schwarzblau” das Thema Volksbefragung

  • zunächst bis 2022 verschoben – und für die Zeit danach
  • unter den Vorbehalt gestellt, dass das Verfassungsgericht in einer “verpflichtenden Vorabkontrolle (…) keinen Widerspruch zu den grund-, völker- und europarechtlichen Verpflichtungen Österreichs feststellt” (Seite 20) Das bedeutet, dass der VfGH eine solche Abstimmung verbieten muss, weil sie sozusagen per definitionem auf einen “Widerspruch” zu den bereits in die Verfassung übernommenen “internationalen Verpflichtungen” hinausläuft.

Das alles ist kein Versehen, sondern etwas, das der junge Herr Kanzler, der schon am Dienstag zu einem “Antrittsbesuch” nach Brüssel reisen wird, durchgesetzt hat.

Und es ist europapolitisches business as usual.

Der Asyl-Betrug

In Sachen Asyl/Migration, wo sowohl die neue ÖVP als auch die FPÖ im Wahlkampf um die “härtere Linie” gerittert haben, sind die Weichen ebenfalls auf die Beibehaltung des Status Quo gestellt – allem Polit-Gelaber zum Trotz.

Das zeigt sich daran, dass als das zentrale diesbezügliche Regierungsvorhaben der

Stopp der illegalen Migration”

angeführt wird.

Das bedeutet unausgesprochen, dass weiter Zehntausende Asylwerber “zugelassen” werden, die danach von einer dem Innenministerium zugeordneten, vorgeblich unabhängigen Behörde anerkannt werden.

Es ist eine – ggf. etwas nuançierte - Fortsetzung des bisherigen Einwanderungsmodells über die Gewährung von Asyl- bzw. “subsidiärem Schutz” durch das BFA,

Dabei handelt es sich um einen völlig legalen Prozess, der zu einer ebenso legalen Einwanderung in das hiesige Sozialsystem führt.

“Illegale Migranten” sind nämlich nur jene Leute, die beim Versuch einer Einreise gegen bestehende Gesetze erwischt werden.

Ausländer, die auf österreichischem Staatsgebiet aufgegriffen werden und dabei Asyl fordern, sind Antragsteller, die durch die Genfer Flüchtlingskonvention und EU-Gesetze geschützt sind – also absolut keine “illegalen Migranten”.

***

Hier findet sich eine Analyse, die dieser Blogger zu den Aktivitäten des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl für 2016 angestellt hat.

Auf Basis der offiziellen Zahlen der EU-Statistik (Eurostat) wird klar, dass in besagtem Jahr etwa 70 Prozent der beim BFA eingebrachten “Asylanträge” positiv erledigt wurden – bereits in erster Instanz!

In den anschließenden Berufungsverfahren wird sich diese Maßzahl absehbar auf 80 bis 90 Prozent erhöhen (darüber hinaus wird der Familiennachzug munter weitergehen – mit Ausnahme von Mehrfach-Ehen).

Bis zu ihrem Ende, also bis zum Vorliegen einer rechtswirksamen Entscheidung, sind Antragsteller jedenfalls vor einer Abschiebung geschützt – in Einzelfällen auch darüber hinaus (“non refoulement”).

Die Regierung Kurz/Strache gedenkt auch das nicht zu ändern.

Das bedeutet, dass sich das zweite zentrale Versprechen von Schwarzblau – die “konsequente Rückführung abgelehnter Asylwerber” (Seite 28) lediglich auf eine Restgröße bezieht;

nämlich auf ein paar Tausend “Pechvögel”, die den Rechtsweg ausgeschöpft haben und die auch nicht glaubhaft machen konnten, dass ihnen wenigstens der Status von aus humanitären Gründen Aufzunehmenden zusteht.

Natürlich sind sich sowohl Kurz als auch Strache all dessen bewusst – schließlich verfügen FPÖ und ÖVP  sozusagen “an jedem Finger” über einschlägig spezialisierte Anwälte.

Ebenso natürlich wissen das 99 Prozent von ihren Wählern nicht – Staatsbürger, die sich in grandioser Uninformiertheit ein Ende des Asyl-Irrsinns erwartet haben.

Es sind Bürger, die am 15. Oktober für die Basti-Täuschung gestimmt haben – direkt oder indirekt.

Seit diesem Zeitpunkt ist klar geworden: Das einzige, was die neue Regierung wirklich beendet, ist die Durststrecke, in der die FPÖ nicht zu den Fleischtöpfen der Bundesregierung vorgelassen wurde.

Was tun?

Ich kann diese Frage leider nicht beantworten.

Die Wahlen sind geschlagen und das Kind ist in den Brunnen gefallen. 

Kurz, Strache (und auch Kern) haben ein demokratisches Mandat für die nächsten fünf Jahre errungen.

Das ist zwar unter grob irreführenden Umständen zustandegekommen – es ist aber ein Resultat von “freien (aber wohl nicht fairen) demokratischen Wahlen”.

Es war die Entscheidung eines Wahlvolks, von dem – als Postulat – angenommen werden muss, dass es sich im Vollbsesitz seiner geistigen Kräfte befindet und dass es weiß, was es tut.

Das bedeutet für alle, die mit dem Resultat der schwarzblauen Regierungsverhandlungen nicht zufrieden sind, aber nicht dass sie ihre Hände verschränken und fünf Jahre warten müssen.

Politisch bietet sich aus Sicht dieses Bloggers

  • entweder der eilige Aufbau einer demokratischen Partei an, die Forderungen, die von der FPÖ in Aussicht gestellt wurden, wirklich umzusetzen gedenkt – zumindest in den Bereichen direkte Demokratie und Asyl/Immigration; oder aber
  • eine Stärkung jener monarchistischen Kräfte, die bereit sind, ihre Legitimation auf eine Form von “Volkssouveränität” zu gründen – dem Verständnis, dass der Monarch und die von ihm eingesetzten Regierungen wesentliche staatspolitische Entscheidungen nur mit Einverständnis durch das “Volk” treffen dürfen. Das wäre, so absurd das klingen mag, “ein demokratischer Fortschritt”.

Was die persönlichen Konsequenzen betrifft, die Malkontente ziehen können, ist die Zahl der individuellen Enzelfälle zu hoch, um eine sinnvolle Aussage treffen zu können.

Zunächst empfiehlt es sich, jede Zusammenarbeit mit Staat, Regierung und Wirtschaftssystem einzustellen, zu der man nicht gesetzlich verpflichtet ist.

Das mag für viele leichter gesagt als getan sein – etwa jene, die Transferleistungen beziehen und die über diesen Hebel gezwungen werden können, sich botmäßig zu verhalten.

Besonders verwundbar sind dabei jene, deren steuerliche Transfers bzw. SV-rechtlichen Bezüge von Beamten-Goodwills und Ermessenspielräumen abhängig sind.

Andere, die unabhängiger sind, tun sich leichter. Sie können z.B. versuchen Steuern und Abgaben so stark wie (gesetzlich) möglich zu minimieren.

Und sie können ihr Finanzvermögen aus dem Banksystem abziehen.

Für diese Leute bietet sich die Möglichkeit einer echten – also nicht “von oben” erzwungenen, freiwilligen  – Solidarität.

Solidarität mit jenen, die existenziell auf das Wohlwollen dieses politischen Systems angewiesen sind.

Nachtrag, 02.00 Uhr, 18.12.2017 – Schwarzblau will die Mindestsicherung zwischen “schon länger hier Lebenden” und Asylanten differenzieren.

Das Vorhaben verdient Unterstützung, zielt es doch darauf ab, den Anreiz für die “Einwanderung Versorgungssuchender in das österreichische Sozialsystem” zu reduzieren.

Der Verdacht, dass es sich dabei um nicht durchsetzbare Absichtserklärungen handelt, liegt jedoch nahe.

Erstens, weil die Mindestsicherung in den Bundesländern beschlossen wird und sich erst zeigen muss, ob ein österreichweites Grundsatzgesetz, wie gewünscht, wirklich Wirksamkeit entfalten kann.

Wichtiger noch ist freilich, ob die bereits in einigen Bundesländern geübte Differenzierung von Staatsbürgern und Asylanten vor dem EGMR hält.

Für anerkannte Asylanten und Schutzberechtigte besteht nämlich ein im internationalen Recht verankertes Gleichbehandlungsgebot gegenüber Inländern.

Es besteht daher die Möglichkeit, dass das Vorgehen von Nö und Oö. bzw. die Pläne der schwarzblauen Bundesregierung in Straßburg scheitern (was den handelnden Politicos wohl schon heute klar ist).

Die sind bereits ähnlich bei den sektoralen Fahrverboten in Tirol vorgegangen.

Die sind zwar alle “binnenmarktwidrig”, bleiben aber so lange in Kraft als es keine endgültige Verurteilung durch den EuGH gibt).

Nachbemerkung II,18.12.2017: Was, bitteschön, spricht dagegen, dass die FPÖ in der neuen Koalition “treuhänderisch” jene Funktion übernimmt, die bisher die SPÖ innehatte?

Wenn man von der hohlen Rhetorik und gewissen fixen Ideen abstrahiert, sie sich in linken Hirnen eingenistet haben, sind sich SPÖ und FPÖ ziemlich ähnlich.

Die einen sind halt die internationalistische Sozi-Partei und die anderen die soziale Heimatpartei. Kollektivistisch, etatistisch und populistisch sind sie beide.

Unabhängiger Journalist

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