Man ist von den Meinungsmachern in der politischen und journalistischen Elite des Westens einiges gewohnt – aber dass man die Entscheidung Boris Johnsons, eine neue Legislativperiode zu beginnen und ein neues Regierungsprogramm zu präsentieren, als einen Angriff auf die Demokratie darstellen würde, habe ich nicht erwartet. Von John James.
Nach einer arbeitsbedingten Abwesenheit melde ich mich gemeinsam mit dem britischen Unterhaus und der neuesten Brexit Hysterie aus der Sommerpause zurück.
Zur Klärung der Lage folgende Erläuterung:
Das britische Unterhaus wird planmäßig alle 5 Jahre gewählt. Der Zeitraum dazwischen besteht aus mehreren Legislativperioden (parliamentary sessions).
Das Parlament hat im Juli und August keine Sitzungen, die Parlamentarier kehren normalerweise Anfang September nach London zurück.
Die Königin verkündet dann am Ende der ersten Septemberwoche das Ende der laufenden parliamentary session an und nennt ein Datum für die Eröffnungsrede der neuen Session (the Queenˋs speech).
In dieser Rede wird das geplante Legislativprogramm der Regierung für das kommende Jahr vorgestellt. Anschließend debattiert das Unterhaus über den Inhalt des Regierungsprogramms.
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Die Regierung versucht, ihr Programm im Laufe der Session durchzubringen. Am Ende des Jahres (also im Juni des darauffolgenden Kalenderjahres) zieht die Regierung entsprechend Bilanz und bereitet eine neue Queenˋs Speech mit neuem Inhalt für die nächste Session nach der Sommerpause vor.
In der Zeit zwischen zwei Sessions gibt es keine parlamentarischen Sitzungen. Diese Unterbrechung dauert in der Regel 3 bis 4 Wochen. Warum? Weil in dieser Zeit die drei größten Parteien des Landes ihrer Parteitage abhalten: zuerst die Liberal Democrats ab 14.09, dann Labour ab 21.09 und zuletzt die Konservativen von Samstag 21.09 bis Mittwoch 02.10.
Die nächste Arbeitswoche würde am Montag 07.10 beginnen. Also würde man normalerweise erwarten, dass Boris Johnson sein Arbeitsprogramm im September beim Parteitag den Parteimitgliedern und am 07.10 mittels Queenˋs Speech dem Parlament vorstellen würde.
Eine neue Session ist auf jeden Fall fällig. Erstens, weil die derzeit laufende Session die zweitlängste der Geschichte ist. Theresa May hat darauf verzichtet, 2018 eine neue Sitzung zu beginnen, weil sie nicht bereit war, von ihrem Legislativprogramm von 2017 abzurücken und die Session von 2017 verlängerte, in der Hoffnung, sich doch durchsetzen zu können.
Wie wir wissen, musste sie im Mai 2019 einsehen, dass ihre Europapolitik keine Mehrheit im Parlament finden kann. Die neue Regierung des Boris Johnson hat diese Politik für gescheitert erklärt und hat eine neue politische Strategie. Sie bereitet sich auf einen Hard Brexit vor.
Es ist legitim und sinnvoll, diese neue Politik in einer Rede der Königin dem Parlament öffentlich und offiziell vorstellen zu wollen.
Der Schachzug des Boris Johnson
Nun ist Boris Johnson, wie in einem früheren Kommentar angedeutet, ein Schlitzohr und hat die Queen gebeten, eine untypisch lange Unterbrechung der parlamentarischen Arbeit (fünf Wochen) anzuordnen. Die Queenˋs Speech wird nicht am 07.10 , sondern am 14.10 stattfinden.
Nach ihrer Rede bleiben nur 14 Tage bis zum Brexit am 31.10.2019. Das Parlament sollte die ganze Woche über den Inhalt der Rede debattieren, allerdings beginnt schon am Donnerstag 17.10.2019 der letzte und entscheidende EU Gipfel vor dem Brexit Termin am 31.10.2019.
Falls die Parlamentarier als Reaktion auf die Queenˋs speech die Regierung stürzen, stürzen sie den EU Gipfel somit auch ins Chaos, denn die EU Kommission hätte in diesem Fall keinen Gesprächs- und Verhandlungspartner, britische Neuwahlen könnten erst nach dem 31.10 stattfinden.
Es bleibt also den Parlamentariern nur die kommende Woche, von 03 bis 06 September, um die Regierung Johnson zu stürzen.
In diesem Zugzwang offenbart sich das ganze Dilemma der Remainers. Johnson zeigt sich durch diesen Schachzug als geschickter Taktiker.
Zweifellos gibt es im britischen Unterhaus eine Mehrheit, de nicht nur gegen einen Hard Brexit, sondern gegen den Brexit überhaupt ist.
Wenn sie es tatsächlich ernst meinen, müssten diese Parlamentarier die Regierung Johnson kommende Woche stürzen, die Schließung der laufenden parliamentary session verhindern und eine Regierung der “nationalen Einheit“ bestellen, die Artikel 50 zurücknimmt und den Verbleib Großbritanniens in der EU beschließt.
Es gibt zwei gewichtige Gründe, die gegen eine solche Vorgehensweise sprechen:
- Die Parlamentarier können sich auf keinen Kandidaten für den Premierminister einigen. Die Pro EU-Konservativen und die Liberal Democrats lehnen den Marxisten Corbyn ab, die Labour Partei lehnt aber jeden Premierminister außer Jeremy Corbyn ab.
- Die Parlamentarier sind zu feig, um offen das Ergebnis der Volksabstimmung rückgängig zu machen. Also versuchen sie unter Anwendung einer Vielzahl an prozeduralen Tricks, den Brexit auf den St. Nimmerleinstag aufzuschieben.
Ein absurdes Theater
Die Absurdität der ganzen Angelegenheit lässt sich folgend zusammenfassen:
Der oberste Grundsatz der britischen Verfassung lautet: es gibt keine höhere politische Autorität als das Unterhaus.
Die Pro EU-Parlamentarier wollen diesen Grundsatz aufgeben und durch den Grundsatz ersetzen, dass EU-Recht bedingungslos Vorrang vor britischem Parlamentsrecht habe. Um dies zu erreichen, pochen sie auf die Souveränität des britischen Parlaments, alles entscheiden zu dürfen.
Die Anhänger einer bedingungslosen parlamentarischen Souveränität sehen sich mit einem Parlament konfrontiert, das diese Souveränität am liebsten durch einen letzten souveränen Kraftakt für alle Zeiten beseitigen möchte.
Sie wollen ein Ende dieser Endlosdebatte erzwingen und notfalls ein neues Parlament wählen lassen. Bei diesen Neuwahlen würden viele Pro EU- Parlamentarier ihre Sitze verlieren.
Ein Kompromiss zwischen diesen zwei Haltungen ist nicht möglich. Das hat die Regierung May bis zur Erschöpfung demonstriert.
Man darf nämlich nicht vergessen, daß die Briten nie für einen EU-Beitritt gestimmt haben. 1976 stimmten die Briten für enen Beitritt zur Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG).
Die Beitrittsbefürworter von damals haben versprochen, daß die EWG eine rein wirtschaftliche Angelegenheit sein würde und dass es zu keinem Verlust an politischer Souveränität kommen würde.
2016, nachdem schon lang klar geworden war, dass dieses Versprechen nicht gehalten werden konnte, haben die Briten gegen die EU Mitgliedschaft gestimmt.
Problematisch für eine Elite, die schon längst gelernt hat, den Verzicht auf Selbstbestimmung als unvermeidlich und wünschenswert zu betrachten.
Eine Frage der Perspektive
Die Taktik eine neue Legislaturperiode auszurufen, um politische Opposition zu umgehen, wurde schon 1948 von der damaligen Labour Regierung angewendet.
1911 wurde das Vetorecht des House of Lords, bis in die 1970er Jahre noch von Erb-Adel dominiert, auf drei parliamentary sessions begrenzt.
Das bedeutete, dass im Normalfall die Lords ein Vorhaben der Regierung nur drei Jahre lang verhindern konnte. Wenn das Unterhaus das Gesetz in einer vierten Session noch einmal durchbrachte, dann mussten die Lords dies akzeptieren.
1948 hatte die Labour Regierung unter Clement Attlee Angst, daß die Lords ihr Programm der Verstaatlichung blockieren könnte. Die nächste Wahl wäre schon 1951 zu bestreiten.
Um die Lords zu entmachten, wurde ihr Vetorecht auf ein Jahr begrenzt. Um dieses Gesetz gegen den Willen der Lords möglichst schnell durchzubringen, bat Premierminister Attlee den König, Anfang September die laufende Session zu beenden, am 14.09 pro forma eine zweite zu beginnen, die nur fünf Wochen später am 25.10 beendet wurde und kurz danach eine dritte Session zu beginnen, in der nach den gültigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen den Widerstand der Lords technisch korrekt überwunden werden konnte.
Attlee konnte mit diesem prozeduralen Trick in nur 18 Monaten ein Verfassungsgesetz durchbringen, das die Lords nach damals gültigen Recht eigentlich drei Jahre lang hätten blockieren dürfen.
Das hat damals kaum jemanden gestört. 1948 ging es darum, die uneingeschränkte Souveränität des Unterhauses, der gewählten politischen Vertretung des Volkes, gegenüber den Ansprüchen des nicht gewählten Feudaladels zu behaupten.
Das war natürlich A Good Thing, da waren sich alle einig.
2019 geht es darum, die uneingeschränkte Souveränität des Unterhauses gegenüber den Ansprüchen des nicht gewählten „Adels“ der EU Kommission zu behaupten.
Das soll auf einmal A Bad Thing.sein.
Das soll einer, der an die parlamentarische Souveränität glaubt, verstehen!
Doppelmoral
“Is that light at the end of the tunnel? No, itˋs an oncoming train!”
Der Doppelstandard, den die Linke in ganz Europa an den Tag legt, manifestiert sich in dieser Hysterie um die angebliche „Ausschaltung des Parlaments” – nur fällt dies allzu wenigen auf.
Das ist ein Phänomen, das wir nicht nur in England bemerken können.
Dieser Doppelstandard – sowie die Verzerrung und Verwirrung im politischen Diskurs in ganz Europa – macht eine sinn-volle, lösungs-orientierte politische Debatte immer schwieriger.
Sovereignists und Integrationists reden aneinander vorbei, ihre Fähigkeit, einander zuzuhören, Gedanken auszutauschen und Lösungen zu finden, die für beide Seiten zukunftsweisend sind, schwindet von Tag zu Tag.
Ob in Italien, Deutschland, Frankreich oder GB, die Zeichen stehen auf Konfrontation.
„You can ignore reality, but you canˋt ignore the consequences of reality“, bemerkte Ayn Rand einmal.
Möglicherweise ist der Hard Brexit nur Vorbote einer brutalen Kollision mit der Realität, die bald ganz Europa erschüttern wird.
Wenn die EU vor dem 31.10.2019 sich als unfähig erweisen sollte, die Brexit-Krise zu entschärfen, werden wir uns ernsthaft mit der Möglichkeit und den Konsequenzen einer solchen kontinentalen Kollision mit der Realität auseinandersetzen müssen.
Leider will unsere politische Elite die potenzielle Gefahr nicht wahrhaben. Für sie darf das Licht am Ende des Tunnels kein heranrasender Zug, sondern nur die Bestätigung einer lang erwünschten und bald verwirklichten politischen Utopie sein.
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