In der österreichischen Regierung ist ein “Streit” darüber ausgebrochen, ob die Republik am Umverteilungsprogramm für Flüchtlinge teilnehmen soll, für das die damalige Innenministerin im EU-Ministerrat votierte. Die relocation wurde mit qualifizierter Mehrheit angenommen, und über die opponierenden Višegrad-Staaten ist man genüsslich drübergefahren. Beide, die SPÖ des vormaligen ÖBB-Schlepperkönigs Kern und die “originale EU-Partei” ÖVP, haben 2008 die Wurzel des Übels durch’s Parlament gepeitscht – den Vertrag von Lissabon, gemeinsam mit den Grünen. NB zum irrelevanten innenpolitischen Getänzel.
Die heutige “Unstimmigkeit” ist reine Show, um das Publikum dazu zu bewegen, wenigstens eine der Koalitionsparteien noch zu unterstützen.
Gefakte Koalitionsstreitigkeiten wie diese sind in der österreichischen Innenpolitik nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Selbst wenn der Tag 48 Stunden lang wäre, könnte man ihn damit verbringen, Polit-Wrestling dieses Zuschnitts zu analysieren – und wäre noch immer nicht fertig. Hier und hier habe ich – sozusagen beispielhaft – zwei der Heumarkt-Catches analysiert.
Beim aktuellen Showkampf mimt Ernst Sobotka, der Nachfolger der designierten Landeshauptfrau Mi-Lei, den Vertragstreuen – für alle, die’s gern rechtskonform haben (eigentlich ist der gute Mann ja eh dafür, sich auch offiziell von der Relocation-Leiche zu distanzieren – aber das soll gefälligst der Kanzler beantragen).
Sobotkas rotes Spiegelbild Hans-Peter Doskozil hat diesmal angefangen.
Dosko möchte von der Beerdigung dieses europapolitischen Wracks profitieren – scheint freilich nicht daran interessiert, seinen (Noch-)Parteichef in Verlegenheit zu bringen. Sein Argument: Österreich habe seinen “Beitrag” ohnedies bereits übererfüllt.
Das ist nicht ganz falsch, wenn man sich die untätig umstehenden Europäer (auch) westlich des Rheins so ansieht, beispielsweise die Franzosen und Spanier, die ja für den genialen Plan gestimmt haben.
Freilich können die gut argumentieren, dass die “Flüchtlinge” ohnedies nie zu ihnen wollten und dass Deutschland & Co. signalisiert haben, dass sie eh offen seien und gern mehr Immigranten hätten.
Also sollen die Deutschen, Ösis und Schweden gefälligst auch den Italienern und Griechen helfen, wenn ihre Gäste durch die Vorgärten der Südeuropäer trampeln.
Letztlich, könnte man argumentieren, handelt es sich um ein selbst verschuldetes Schicksal, für das man schlecht Solidarität einfordern kann (Solidarität in einem verzwickten Sinn: Solidarität, dass sich die einladenden Nationen nicht auch noch um die Italiener und Griechen kümmern müssen).
Selbst verschuldet durch die Feigheit und die Realitätsverweigerung der herrschenden Klasse und die falsch verstandene Toleranz der Bevölkerung, die ihren politischen Bruchpiloten nicht rechtzeitig in den Arm gefallen ist (den Migranten selbst ist in der Mehrzahl kein Vorwurf zu machen – zumindest denen, die wirklich auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben sind).
Die ultimative Begründung der EU-Flüchtlingsquoten ist freilich eine rechtliche.
Diese liegt im Vertrag von Lissabon, mit dem die EU-internen Abstimmungsregeln geändert wurden – wobei auch die Asylpolitik “in die Hände Europas” gelegt wurde.
Das wollten unsere Politicos.
In bemerkenswerter Einigkeit haben sie diese Paragraphen 2008 “ihrem” Volk aufgezwungen, eine Abmachung, die mit dem 2005 von den Niederländern und Franzosen abgelehnten Verfassungsvertrag weitgehend identisch ist (hierzulande haben nur FPÖ und BZÖ <†> nicht mitgemacht).
Wenn man davon absieht, dass dieser Vertrag nicht legitim – und möglicherweise auch nicht legal – ist, hat die Rechtsposition von Sobotka etwas für sich. Regierungspolitiker haben großmächtig “verhandelt” und kontrollierte Parlamante haben dieses Verhandlungsergebnis dann abgesegnet. Auch die Polen, Tschechen und Ungarn.
Auf Basis von Lissabon hat der EU-Ministerrat im September 2015 mit den benötigten Stimmen die relocation von (letztlich) 160.000 Asylsuchern beschlossen.
Alles paletti also, rein rechtlich !?
Nicht wirklich.
Auch rechtlich wäre nur dann alles paletti, wenn dieser Vertrag ohne Täuschung und Ausschaltung der Staatsvölker zustande gekommen wäre – und wenn er beispielsweise durch Mehrheitsvoten des jeweiligen “Souveräns” abgesichert wäre.
Nachbemerkung, 30. März 2017, 4.00 Uhr: Minister Sobotka ist zufrieden, dass Kanzler Kern “endlich einmal auf die richtige Seite gefallen” ist und einen Brief an Brüssel geschrieben hat, in dem er begründet,warum Österreich eine Extrawurst gebraten haben möchte – bei einem Programm, für das es im September 2015 im Ministerrat gestimmt hat.
Das, mit Verlaub, ist mindfuck, wie man neudeutsch sagen würde.
Unser Polit-Gesocks ist meilenweit davon entfernt, den juristischen und europapolitischen Schaden, den seine Vorgänger angerichtet haben, gut machen zu wollen.
Die Politicos wollen nur ihre eigenen Ärsche aus der Schusslinie bekommen. Dafür, glauben sie, reicht innenpolitisches Getänzel um ein faktisch bereits totes EU-Vorhaben aus.
Von tätiger Reue jedenfalls keine Spur.
Man müsste ja nicht gleich zu den großkalibrigen Waffen greifen wie beispielsweise die Ansetzung einer Volksabstimmung über einen EU-Austritt. Wenn man es ernst meinte, würde es schon reichen, sich der Klage von Ungarn und der Slowakei gegen das relocation-Programm anzuschließen.
Auch das wäre nur eine symbolische Geste, eine zum Schlag gegen Lissabon ausholende, sonst aber völlig unbewehrte, bloßé Faust. Es wäre aber ein viel kräftigeres Symbol als der Verständnis heischende Kanzlerbrief an den Lügenbaron vom Berlaymont.
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