Ägypten hat im UN-Sicherheitsrat falsch – nämlich für die Russen – abgestimmt und bekommt daher von Saudiarabien bis auf weiteres kein Öl mehr. Der Staat, dessen Bevölkerung um jährlich zwei Prozent wächst, ist eine demographische Zeitbombe. Wenn diese explodiert, droht das alles in den Schatten zu stellen, was Süd- und Mitteleuropa bisher an Migrationsdruck erlebt haben.
Der ägyptische Außenminister weiß das, und auch, dass die außenpolitischen Eliten der EU-Länder um die spezielle Rolle seines Landes Bescheid wissen. Trotzdem lässt er beiläufig in ein aktuelles Interview mit einer österreichischen Zeitung einfließen:
Die EU hat Probleme mit Migration aus Syrien? Dann stellen Sie sich vor, Ägypten implodiert. Stellen Sie sich einen Krieg in Ägypten vor und dass sich von hundert Millionen ein Prozent radikalen Ideologien anschließt: Das ist eine Million Menschen. Wenn sich zehn Prozent auf den Weg nach Europa begeben: Das sind zehn Millionen.”
Natürlich weiß Sameh Shoukry auch, dass die europäischen Außenpolitiker sich schon immer erpressen haben lassen, auch und gerade im Nahen Osten. Wahrscheinlich will er den EU-Politicos, die hinter den Kulissen gerade einen Deal a la Turca verhandeln, nur ein bißchen Feuer unterm Popo machen.
Sein Drohmittel ist auch gar nicht schlecht, denn es ist glaubwürdig.
Die Situation, die Shoukry beschreibt, ist real. Der Mann braucht nicht zu übertreiben, die soziale und politische Wirklichkeit seines Landes ist krass genug.
- Wenn es irgendwo Sinn macht von einer Bevölkerungsexplosion zu sprechen, dann in fraglichem Mittelmeer-Arainerstaat. Seit den 1960er-Jahren hat sich die Zahl der Ägypter auf knapp 100 Millionen fast vervierfacht. Bis 2050 soll sie sich noch einmal verdoppeln.
- Die wirtschaftliche Basis, auf der diese Menschen ihre Lebensbedürfnisse decken, wird aber nicht breiter – im Gegenteil. Trotz diverser Produktionsoffensiven muss das Land einen immer größeren Teil der Nahrungsmittel einführen. Schon heute ist es der größte Weizenimporteur der Welt und ohne staaliche Subventionen müssten Millionen verhungern. Ähnlich ist die Situation bei den Treibstoffen. Dort hat die Produktion den inländischen Bedarf weit übertroffen. Früher. Doch die Ölerzeugung geht seit 1995 zurück. Heute ist Ägypten Nettoimporteur, siehe diese Grafik von Matt Mushalik. Crudeoilpeak hat überhaupt eine Menge guter Info zur dortigen Situation.
- Und schließlich ist Ägypten ein gutes Beispiel dafür, dass Demokratisierung unter vergleichbaren Umständen zur Herrschaft religiös-totalitärer Kräfte führt. Das hat nicht nur historische Gründe (Ägypten ist der Geburtsort der Moslembruderschaft). Islamistische Organisationen sind mit Geld von der Halbinsel seit Jahrzehnten aktiv. Sie sind in den Augen vieler einfacher Leute die einzigen, die eine echte Alternative bieten. Bei den Wahlen nach der ägyptischen “Revolution” 2011 hatten islamistische Kandidaten durch die Bank die Nase vorn.
Die Ölmonarchien am Golf sehen das alles aus der Nähe und finden, alles in allem, dass sie eigentlich kein Interesse an einer zusätzlichen Destabilisierung des Bruderstaats am Nil haben; kein Interesse daran, eines Tages vor Millionen rechtgläubiger Brüder und Schwestern zu stehen, die einen Anteil des am Golf geförderten arabischen Öls verlangen.
Das ist das Motiv, warum die reichen Onkels aus Riad Kairo bisher immer ausgeholfen haben, wenn dort die K. am Dampfen war – mit Devisen und Öl.
Zuletzt wurde im vergangenen April bei einem Staatsbesuch König Salmans ein 25 Milliarden-Dollar-Paket unterzeichnet. Saudiarabien liefert Ägypten pro Monat auch 700.000 Tonnen Öl und Ölprodukte.
Lieferte, denn das Kontingent für Oktober ist ausgeblieben, nachdem Ägypten im UN-Sicherheitsrat, wo es gerade Mitglied ist, falsch – oder wenigstens nicht ganz richtig – abgestimmt hat.
Es ging dabei um Syrien bzw. Aleppo, wofür zwei einander eigentlich widersprechende Resolutionen vorlagen: eine französische ( = westliche & golfarabische) und eine russische. Ägypten stimmte zwar für die französische, aber eben auch für die Resolution der Russen, die ihm gerade helfen z.B. die Industrie zu modernisieren etc.
Das fanden die Saudis, die die islamistischen Feinde des Assad-Regimes finanzieren, gar nicht witzig und ihre Öllieferungen blieben aus – einfach so, ohne großes öffentliches Gerede. Die Leute, auf die es ankommt, wissen schon was gemeint ist.
Man darf Shoukry, dem Zaunpfahlwinker vom Standard, also zugute halten, dass er weiß wie es ist erpresst zu werden. Und von Kairo annehmen, dass es die Situation wirklich nicht unter Kontrolle hat, schon jetzt nicht.
Hier schildert die Korrespondentin der Wiener Zeitung, dass schon jetzt ein großer Teil der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer aus Ägypten kommt und dass es in diesem Fall “eigene Staatsbürger” sind.
Doch aus der Türkei fliehen zumeist Syrer und Iraker, kaum Türken. Von den Mittelmeerküsten Ägyptens indes sind die meisten Flüchtlinge Einheimische. Das hat das erwähnte Bootsunglück gezeigt. Die Regierung in Kairo tut alles, um diese Tatsache zu vertuschen und spricht offiziell von Eriträern, Somaliern und Äthiopiern.”
Eine neue 12 Milliarden Dollar-Anleihe des IWF soll nun erneut eine Überbrückungslösung schaffen und Diplomaten aus EU-Ländern tun so, als bestünde der für einen Flüchtlingsdeal zu zahlende Preis in einer Zustimmung der Europäer in den IWF-Gremien.
Das ist lächerlich.
Erdogan hat für verhältnismäßig geringfügige “Leistungen” gegenüber der EU vorerst drei Milliarden Euro bekommen, von denen 2,2 Milliarden bereits geflossen sind (plus die Zusage einer Visaliberalisierung für Türken plus eine EU-Ansiedlungsverpflichtung für syrische Flüchtlinge).
Und da soll das Tätigwerden Kairos nicht mehr kosten als einmal Hand heben in Washington?
Die ägyptische Regierung ist wahrlich nicht zu beneiden und es ist verständlich, wenn sie ihr Fell so teuer verkaufen möchte wie nur möglich.
Hilfe ist in Ordnung, aber im Rahmen der eigenen Möglichkeiten.
Das bedeutet nicht, dass Europa die Probleme Afrikas lösen kann (und die Bevölkerungs-/Ressourcenprobleme Ägyptens sind nur ein Unterfall der absehbaren afrikanischen Malaise).
Nicht einmal annähernd und nicht ohne dabei selbst Harakiri zu begehen können die EU-Länder diese Probleme lösen.
An der Aussetzung und Neuverhandlung der ständig missbrauchten Genfer Flüchtlingskonvention wird in letzter Konsequenz kein Weg vorbeiführen.
Jedenfalls würde das die rechtliche Ausgangslage der EU-Länder erheblich verbessern. Es wäre die sauberste Lösung. Die Migrationslobby, die gern auf anderer Leute Kosten gut ist, wird in jedem Fall jammern.EU hat Probleme mit Migration aus Syrien? Dann stellen Sie sich vor, Ägypten implodiert. Stellen Sie sich einen Krieg in Ägypten vor und dass sich von hundert Millionen ein Prozent radikalen Ideologien anschließt: Das ist eine Million Menschen. Wenn sich zehn Prozent auf den Weg nach Europa begeben: Das sind zehn Millionen.” – derstandard.at/2000045851143/Aussenminister-Shoukry-Stellen-Sie-sich-vor-Aegypten-implodiert
Die EU hat Probleme mit Migration aus Syrien? Dann stellen Sie sich vor, Ägypten implodiert. Stellen Sie sich einen Krieg in Ägypten vor und dass sich von hundert Millionen ein Prozent radikalen Ideologien anschließt: Das ist eine Million Menschen. Wenn sich zehn Prozent auf den Weg nach Europa begeben: Das sind zehn Millionen.” – derstandard.at/2000045851143/Aussenminister-Shoukry-Stellen-Sie-sich-vor-Aegypten-implodiert
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