Erdgas/Ö: Die ominöse wahre Situation in (Mittel)Europa

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Quelle:Entsog

Beschwichtel-Politicos in Österreich und ihre Kumpane in den Medien befinden sich gewissermaßen “in full swing”. Wohl weil beide Gruppen der “Kriegstreiber-Fraktion” angehören, wird laufend behauptet, dass die östliche Alpenrepublik nicht auf russisches Erdgas angewiesen sei, v.a. weil das (westliche) Gesamteuropa gut mit CH4 versorgt sei. Dieser Blogger sieht das, u.a. gestützt auf Daten von Bruegel, GIE-AGSI, Statistical Review, und EIA anders. Noch ist die Lage nicht “akut”: Die Ö. zugeordneten Speicher sind zu fast 84% voll und der laufende Dezember verspricht erneut warm zu werden. Aber die “Nagelprobe” kommt erst ab Februar 2025.

Zunächst sei zugestanden, dass sich seit dem (angeblichen) Lieferstopp der Gazprom und der (angeblichen) Kündigung des langfristigen Liefervertrags durch die OMV nicht viel an der realen Situation verändert hat.

Wie der von der Transparenzplattform der ENTSOG stammende Screenshot “über dem Falz” zeigt, wird in Baumgarten aktuell so viel Gas in die TAG eingespeist wie vor dem “Lieferstopp” Mitte November, was

  • zunächst stark vermuten lässt, dass die Russen seit 16.11. genauso viel Gas nach Baumgarten liefern wie vorher (aber wohl mehr bezahlt bekommen) und
  • zweitens ist die “Volatilität” der Lieferungen nach Mitte November eine ähnliche wie vor dieser angeblichen Zäsur.

Ergänzt sei hier nur, dass – wie ebenfalls auf der Transparenzplattform zu besichtigen - bis drei Monate nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs etwa fünf mal mehr als heute in die TAG eingespeist wurde, nämlich etwa 0,8 TWh pro Tag,

was dieser Blogger so interpretiert, dass die TAG nicht nur A versorgt (und mit diesem die SK und H), sondern dass diese bis Mai 2022 auch dem viel größeren Italien Russen-Gas geliefert hat

(was “Verschwörungstheoretiker” wohl schon aus den Eigentumsverhältnissen und der Geschäftsführung der TAG geschlossen haben).  :mrgreen:

Wie dem auch sei

- dieser Zinnober, steht zu erwarten, hat nächstes Jahr sowieso ein Ende, wenn die Ukraine nämlich den Durchleitungsvertrag mit der RF nicht mehr verlängert

(was das allerhöchste Wohlgefallen der EU-Granden finden würde).

Aber auch in einem solchen Fall, erklären Hofrat Beschwichtel und seine Medien-Papageien, werde es in Ö. genügend Gas zur Heizung der Wohnzimmer geben

- weil die östliche Alpenrepublik etc. dann nämlich von “solidarischen Freundstaaten” aus dem Westen versorgt werde

(viele Russlandfreunde und/oder Marktaffine wiederum glauben, dass die Gazprom halt wie gehabt an die slowakische Grenze bzw. nach Baumgarten liefern würde, wo findige Zwischenhändler das Moskowiter-Methan übernehmen und sich daran goldene Nasen verdienen würden).

Obwohl beide Szenarien in der Zukunft liegen und daher, streng genommen, “nicht falsifizierbar sind”, kann sich dieser Blogger weder das eine noch das andere vorstellen,

beschäftigt sich hier aber nur mit dem ersten Narrativ, weil dieses der von der Journaille protegierten Mehrheitsmeinung entspricht.

Bevor freilich in die Gefilde der Finanzialisierung abgeglitten wird, noch eine Untersuchung des realen Status Quo, den man, kurz gefasst, in drei Punkten zusammenfassen könnte:

  • Die Versorgungslage des zu Ende gehenden Jahres befindet sich in Gesamteuropa – und erst recht in Ö. – auf einem durch milde Winter und Deindustrialisierung gekennzeichneten, aber noch immer angemessenen “niedrigeren Niveau”.
  • Der Rückgang der europäischen Gasversorgung gegenüber dem Zustand vor 2022 ist jedoch nicht zu leugnen (siehe dazu den weiter unten eingebundenen Screenshot einer Grafik von Bruegels “European natural gas imports”). Speziell die vom – wie immer gearteten – “Markt-Abgang der Russen” gerissene Lücke konnte versorgungsseitig nur etwa zur Hälfte wieder aufgefüllt werden. Die zweite Hälfte ist bisher wohl durch Verbrauchsrückgänge kompensiert worden (die freilich nicht “anhalten” müssen).
  • Nicht “anhalten” muss “auf der Versorgungsseite” aber auch der Zufluss von US-amerikanischem Erdgas, dem Joker von 2022 (siehe dazu den Exkurs weiter unten).

Zunächst zu den – alles entscheidenden – gesamten europäischen Gas-Importen des Jahres 2023 (die 2024er-Zahlen sind naturgemäß noch nicht da).

Laut Statistical Review ’24 p. 42 hat “Europa” (in diesem Fall wohl die EU) im vergangenen Jahr 280,7 Mrd. Kubikmeter importiert und 34,4 Milliarden selbst produziert (p. 37). Die gleiche Statistical Review hält auf Seite 39 für “Total Europe” freilich einen Verbrauch von 463,4 Mrd. m3 fest (also für EU + UK, Türkei, Nicht-EU-Ost- bzw. Südosteuropa, aber auch z.B. die Schweiz und Norwegen).

Bruegel kommt für die EU-27 2023 auf 315,6 Mrd. importierte Kubikmeter Gas (was ziemlich genau dem Import der Europäischen Union, vermehrt um deren Eigenproduktion gemäß Statistical Review 2024 entspricht).

Gemäß dem IMO belastbarsten “Datum”, dem EU-Import nach der Statistical Review ’24, liegt zwischen den Jahren 2021 (also noch voll inklusive RF) und 2023 eine Minder-Einfuhr von knapp 60 Mrd. Kubikmetern.

Dieser Einfuhr-Reduktion sowie US-amerikanischen Zugewinnen im Ausmaß von etwa 45 Mrd. Kubikmetern (2023 ggü. 2021) steht (lediglich bei Pipeline) eine “Russenlücke” von 82,5 Mrd. m3 gegenüber (= 132,3 Mrd. m3 – 49,8 Mrd. m3)

Es lässt sich also grob sagen, dass via US-LNG und europäischen Minderverbrauch bis zum Ende des Kalenderjahrs 2023 (und wohl auch noch 2024) die “Russenlücke” bequem kompensiert werden konnte (“kleinere Faktoren” wie die Eigenproduktion der EU – mehr als minus 9 Mrd. m3 – werden in der Rechnung bewusst außer Acht gelassen).

Zunächst lässt sich Obiges sagen.

“Milde Winter” und rückläufiger Gasverbrauch sind aber nirgendwo in Stein gemeißelt.

Und ein Blick auf die – im Original “interaktive” – Fig.1 von Bruegels Natgas-Import-Tracker macht die sinkenden Gesamtimporte augenfällig.

Zur Erläuterung: Die hellblaue Linie zeigt die Wochen-Importe des Jahres 2021, darunter sind die Linien der Jahre 2022 und 2023 angesiedelt, noch weiter d’runter liegt die beige Linie des noch nicht beendeten Jahres 2024 (dzt. bis Woche 49 “upgedatet”).

Screenshot 2024-12-13 at 15-38-56 European natural gas imports

 Exkurs: “Wild Card” US-LNG

Ein beträchtlicher Anteil der rückläufigen Gesamtimporte geht auf die Flüssiggas-Einfuhren allgemein und insbesonders auf die LNG-Importe aus den USA zurück. Wie ein Blick auf Bruegels Fig.5 zeigt, haben die USA in den ersten drei Quartalen 2024 um gut 7 Mrd. Kubikmeter weniger nach Europa geliefert als im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres

- das in einem Jahr, in dem sich in den Vereinigten Staaten ein neuer Produktionsrekord der shale revolution anbahnt.

Die Produktion der “Staaten” soll heuer also noch einmal wachsen (das Plus des US-internen Verbrauchs 2024 freilich noch einmal höher als 2023 ausfallen).

2023 haben die USA 7,6 Billionen Kubikfuß pro Tag exportiert, wovon mehr als 40 Prozent per Pipeline nach Mexiko und Kanada gingen.

4,34 Bio. cfd wurden per Tankschiff in alle Welt geliefert, hauptsächlich an diverse Freunde in Europa und Asien.

In welchem Verhältnis das passiert, ist in der EIA-Statistik nur mühsam zu ermitteln, weil in deren öffentlichem Teil die Abnehmer von US-LNG nur länderweise erfasst sind und man alle Monate aller “Kandidaten” addieren müsste um zu einem konsolidierten Ergebnis zu kommen.

Die von Bruegel verwendete EU-Importstatistik ist da hilfreicher.

Sie zeigt den auch in der Statistical Review ’24 sichtbaren Großen Sprung 2022, gefolgt von weiteren moderaten Zuwächsen im Vorjahr.

Heuer jedoch scheinen die US-Ausfuhren nach Europa den Rückwärtsgang einzulegen.

Während in den ersten drei Monaten 2024 noch ein Plus gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 zu Buch’ stand, setzte es in den beiden Folgequartalen Rückgänge, die sich bis 30. September auf minus sieben Milliarden Kubik aufsummierten (siehe “Import-Tracker”, Fig. 5).

Das ist noch nicht “die Welt” und kann sich wieder ändern

- aber es zeigt, dass die in die EU exportierte Menge rückläufig sein kann,

auch wenn die Gesamtproduktion von dry gas gesteigert wird und die Zahl der Schiffe und Gasifizierungs-Terminals wächst (das auch von Trump “adoptierte” Motto von “Drill, baby, drill” trägt nicht weiter als dies “die Geologie” zulässt – abflachende oder gar rückläufige Förderraten in alten Feldern und die steile Erschöpfung nicht mehr ganz junger Quellen, sprechen eine deutliche Sprache).

Kurzum: der “Joker des Jahres 2022″ muss 2025 oder 2026 nicht mehr stechen, vor allem dann nicht, wenn die US-Förderung rückläufig ist und/oder die Konsumentenpreise “jenseits des Großen Teichs” für Strom aus Erdgas deutlich steigen.

Exkurs des Exkurses: Der Preis des CH4

An dieser vielleicht unpassend erscheinenden Stelle noch ein schneller Ausflug zum Preis des Erdgases, der in den USA deutlich transparenter ist als am “alten Kontinent”, der nur fragwürdige Derivativpreise und Manager- und Politico-Angaben zu ansonsten streng geheimen Lieferverträgen kennt.

Das Thema ist für einen wirtschaftlich denkenden Menschen sowieso abstrus, weil sich dieser schwer vorstellen kann, dass Gas, das zwei Mal seinen Aggregatzustand wechseln muss (Verflüssigung und Regasifizierung) billiger ist als Gas aus der Pipeline.

Genau das wird aber behauptet, wenn erklärt wird, dass Russen-Gas aus ganz oder teilweise abgeschriebenen Pipelines teurer wäre als LNG-Gas.

Derlei “widerspricht dem gesunden Menschenverstand”, wird aber oft hingenommen, weil der Sprecher (der vielleicht nur Propaganda betreibt) “es ja wissen muss”.

In den “Staaten”, deren Statistiken freilich auch nicht immer über den Weg zu trauen ist, gibt es offizielle Angaben der Energy Information Administration zu den Exportpreisen von Pipeline- und LNG-Gas, die das Bild, das sich der “gesunde Menschenverstand” von den Gas-Preisen macht, bestätigen.

Die EIA-Zahlen zeigen, dass 2023 die Erdgas-Exportpreise von US-Anbietern via LNG fast drei mal so hoch waren wie die Exportpreise via Pipeline (und dass diese im September ’24 schon fast vier mal so hoch waren).

Das mag für viele ein kleines Detail darstellen, die Chose spricht aber

  • entweder gegen die “Wahrheitsliebe” etlicher hiesiger Russengas-Kritiker,
  • oder gegen die “Aussagekraft” vieler in Europa verwendeten Derivativpreise.

Womit wir beim nächsten, dem hier letzten Kapitel angelangt wären.

Forward-Futures

Wenn in Händler-Kreisen vom “europäischen Gaspreis” gesprochen wird, bezieht man sich üblicherweise auf “Dutch TTF Natural Gas Futures”, Forward-Kontrakte, die eine adäquate Preisfindung ermöglichen sollen.

Mittlerweile haben auch Politicos und Versorger, die Gas an “Haushalte an der Basis” verkaufen, das Thema entdeckt.

Die Kontrakte – im Alltag wird als Referenz meist einer mit relativ kurzer Laufzeit hergenommen – eignen sich nämlich nicht nur für Spekulationen, sondern z.B. auch dafür zu demonstrieren, wie nach der angeblichen full scale invasion der Ukraine durch die Russen die Preise explodiert seien und wie sie sich danach wieder “beruhigt” hätten.

Mit anderen Worten: die Dutch TTF Erdgas Futures dienen als scheinbar objektiver Anzeiger dafür,

  • dass “Putin” Verursacher rasch steigender Gaspreise ist, aber auch dafür
  • dass keine Mangelsituation besteht, weil die “gewöhnlich gut informierten Rohstoffhändler” eine solche nicht als gegeben sehen würden.
  • Und nicht zuletzt dienen Terminkontrakte für sagen wir: den Jänner 2025 als Signal für eine scheinbar todsichere Garantie der Lieferfähigkeit zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt, die real freilich nicht wirklich gegeben sein muss (kleinere Mengen wie z.B. solche für österreichische Bedürfnisse mögen “drinnen sein”, kaum aber Mengen für größere Nationen/Staaten, die womöglich alle zum selben Zeitpunkt “delivery” wollen).

Ein ähnliches Thema wird buchstäblich seit Jahrzehnten z.B. für Gold diskutiert, wobei der Verdacht bestand und weiter besteht  – aber nie bewiesen wurde -, dass über Derivative der Preis der Feinunze “gedrückt wird” – Derivative, die “claims” auf eine bestimmte Menge Au zu einem bestimmten Preis zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen.

Wie Analysen gezeigt haben, ist nur ein kleiner Teil dieser Papiergold-Claims “hinterlegt” (was freilich eine Definitionsfrage ist) und nur ein geringfügiger Prozentsatz der Käufer verlangt tatsächlich “physical delivery”.

Es scheint aber kein einziges Beispiel zu geben, bei dem eine solche physische Lieferung zum vereinbarten Zeitpunkt nicht geklappt hätte.

Grafik: ENTSOG, “Transparenzplattform”

Unabhängiger Journalist

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