Frühes Triumphgeheul, prolongiert

master_agsi_wintervergleich_bearbeitet
Quelle: AGSI, eigene Berechnungen

Vor einem Monat habe ich hier über das verfrühte Triumphgeheul in Sachen Erdgas geschrieben und jetzt, etwa zur Hälfte der Wintersaison, habe ich mir die Zahlen noch einmal genauer angeschaut. Ergebnis: Die (buchhalterischen) Storage-Werte des AGSI sind fast dort, wo sie sein müssten. Die ggü. 2021/22 stark verbesserten aktuellen Storage-Werte AGSI-Europas erklären sich a) aus der (buchhalterischen) Minderbefüllung zu Beginn der vergangenen Wintersaison UND b) dem (realen) Minderverbrauch in den ersten drei Monaten der aktuellen Wintersaison. Die scheinbar beruhigenden aktuellen Speicherwerte könnten sich jedoch als trügerisch erweisen.

Vorbemerkung: Die folgenden Kalkulationen beziehen sich ausschließlich auf die gesamte “AGSI-EU” sowie auf den Zeitraum von 1. November bis 1. Februar des Folgejahres. Anfang November haben die Heiz-Entnahmen normalerweise noch nicht begonnen, die Speicher waren – wenigstens der Papierform nach – aber bereits weitgehend befüllt.

Es geht also um drei Monate – grob gesprochen: um die erste Hälfte der jeweiligen Heiz-/Wintersaison.

Quelle für die “Tabelle oberhalb des Falzes” ist das Aggregated Gas Storage Inventory, wobei die Zuflüsse (“Injections”) hier als Buchhaltungs-Werte aufgefasst werden,

die “Withdrawals” dagegen als reale Abflüsse, die zur Erzeugung von Raum- und Prozesswärme etc. sowie für kalorische Kraftwerke verwendet werden

(zur weiteren Erläuterung siehe weiter unten und hier.)

Im Ergebnis stimmt der aktuelle Storage-Wert mit dem um zwei Sonderfaktoren bereinigten Wert vom 1. Februar 2022 überein,

wobei der etwas größere Anteil auf das Handicap der anfänglichen Minderbefüllung entfällt, mit dem AGSI-Europa in die Wintersaison 2021/22 gegangen ist.

Auch hier kann freilich nur “grob gesprochen” von einer Übereinstimmung die Rede sein.

Gemäß der hier skizzierten Überschlagsrechnung müssten eigentlich rund 30 TWh oder gut 3 Mrd. Kubikmeter mehr den westeuropäischen Speichern zugeordnet werden

(etwas weniger, wenn man die EU-Eigenförderung in Rechnung stellt).

Für diese Diskrepanz bieten sich folgende Erklärungen an:

  • Meine Rechnung ist so ungenau, dass die fehlenden 3 Mrd. m3 auf Rundungsfehler, Schätz-Ungenauigkeiten etc. zurück gehen. Ich halte das aber für unwahrscheinlich.
  • Meine Rechnung ist arithmetisch falsch, was für diesen Blogger peinlich wäre.
  • Es wurden im genannten Zeitraum um 30 TWh mehr Gas kontrahiert als in der Vergleichsperiode 2021/22, was ich nicht ausschließen kann, was in dieser Größenordnung aber nicht wahrscheinlich ist.
  • Oder das Gas wurde re-exportiert, an einen Empfänger, der derzeit nicht zur AGSI-EU gehört – also bespielsweise die Ukraine.

BNetzA & AGSI

Damit das Ganze aber nicht zu einfach wird   :-P   , wird hier davon ausgegangen, dass sowohl die AGSI-Statistik als auch die Zahlen & Grafiken der deutschen Bundesnetzagentur korrekt sind,

und dass beide die selbe Sache auf zweierlei Weise abbilden.

Vordergründig scheinen die beiden Zahlenreihen nicht vereinbar:

Während das AGSI von Dezember bis April “Injections” von vlt. ein paar hundert GWh pro Tag verbucht, zeigt die BNetzA z.B. für Jänner 2022 deutsche Gasimporte von ca. 4.500 – 4.600 GWh/d allein für D.

Wenn die “AGSI-Injections” reale Gasflüsse wären, widersprächen sich die beiden Zahlenreihen.

Was aber, wenn die “Injections” für wenige, in den Wintermonaten neu abgeschlossene Lieferverträge stünden und die grenzüberschreitenden Gasflüsse der deutschen Regulatoren zu Beginn 2022 Lieferungen von bereits im Herbst davor eingekauften (eingestellten) Mengen wären?

Rein formal ließe sich vielleicht argumentieren, dass die Gazprom bisher noch immer liefertreu gewesen sei und dass daher auch diesmal keine “Wertberichtigung” erfolgen müsse.

Das Problem dabei wäre nur: die früheren Umstände waren nie mit denen von 2022 auch nur annähernd vergleichbar

Die russischen Lieferungen nach Deutschland erreichten 2022 in drei bis vier Schritten die Nullmarke:

  • Der erste und größte Schritt erfolgte Mitte Juni und wurde mit Wartungsarbeiten und (angeblichen) bürokratischen Schwierigkeiten rund um die Überholung von Gasturbinen für die Nordstream 1 begründet. Interessanterweise drittelte sich damals auch das Russengas, das über die Tschechische Republik nach D floss.
  • Der zweite Schritt wurde demnach ein Monat später getan, als nach den Zahlen der BNetzA Nordstream 1 UND Transgaz auf null abfielen, was im Fall der Nordstream kurzfristig wieder rückgängig gemacht wurde.
  • Ende August/Anfang September 2022 fielen, drittens, die ohnedies bereits bedeutungslos gewordenen russischen Lieferungen nach D ganz auf Null.
  • Ende September erfolgten schließlich, viertens, die Nordstream-Sprengungen.

Die über den Balkan laufende neue Turkstream und die alte Pipeline ins österreichische Baumgarten dürften wenigstens zum Teil noch operabel sein (dieser Blogger hat freilich keine einigermaßen “robusten Erkenntnisse” dazu).

Es ist jedoch klar, dass keine dieser Leitungen städtische Ballungsräume und/oder Kerngebiete der europäischen Industrie versorgen kann.

Auch eine Revitalisierung der bisherigen (Gas-)Pipelines von Russland nach Europa erscheint aus mehreren Gründen wenig realistisch.

Für Deutschland, das vor einem Jahr über NS1 und Tschechien täglich noch etwa 2,3 TWh russisches Gas bezogen hat, gilt das ganz besonders.

D. muss künftig ohne es auskommen, wobei die derzeitige Importmenge rund 3.100 GWh/d ausmacht.

Das legt nahe, dass bisher ein Viertel bis ein Drittel des ausgefallenen Russen-Gases durch Mehrlieferungen aus Norwegen (direkt und über NL) sowie durch Flüssiggas kompensiert wurde ( als “Importe aus Belgien” und “LNG” ausgewiesen).

Abgesehen davon, dass diese LNG-Importe nicht nachhaltig stabil sind, stellt sich die Frage, woher die andern 1,5 TWh/d kommen sollen.

Milde Winter und Einsparungen in Haushalten und Wirtschaft werden jedenfalls nicht ausreichen.

Unabhängiger Journalist

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