Glenn Diesen, ein norwegischer Professor, hat ein Buch geschrieben, das sich mit dem Ukraine-Krieg und einer angeblich kommenden gerechteren und friedlicheren Eurasischen Weltordnung befasst. Es hat wohl nicht zufällige Ähnlichkeiten mit einem vergangenes Jahr erschienenen Text Fadi Lamas. Beide Darstellungen haben ihre Stärken, aber eine entscheidende gemeinsame Schwäche: Den Glauben an eine bessere Weltordung, die, wenn sie denn kommt, eher die kriegerische Multipolarität der Starken sein wird – nichts wovon Tercermundistas und linke Gutmenschen im Westen heute träumen sollten.
Vorbemerkung: Dieser Blogger hat mit hohem Leseaufwand eine Besprechung von Diesens neuem Buch betrieben – um knapp vor deren Fertigstellung Fadi Lamas Text zu finden ,
der zwar nicht speziell auf die Ukraine abhebt, in dem aber immerhin anerkannt wird, dass (dichte) Energie die Treiberin von Geopolitik ist.
Beiden Autoren gemeinsam ist die – wohl korrekte – Überzeugung von der Unhaltbarkeit der US-amerikanischen bzw. westlichen Hegemonie, aber auch Illusionen über eine möglicherweise kommende neue Weltordnung unter östlichen Vorzeichen bzw. unter denen großer “Landmächte”.
Glenn Diesen, der (nicht nur) im NATO-Land Norwegen so etwas wie einen weißen Raben darstellt, entwickelt in der ersten Hälfte seines neuen Buchs die Ansicht, dass eine
multi-polar Westphalian world order with Eurasian characteristics”
bevorstehe, sofern sich die imperialen Platzhirschen, allen voran die USA, nicht doch durchsetzten.
Das ist zunächst sogar für “Laien” verstörend, weil die zweite Hälfte des 17. und das folgende 18. Jahrhundert weder für ihre Friedlichkeit noch für ihre Stabilität bekannt sind.
Konzedieren sollte man zunächst, dass der Westfälische Friede
- einen lang anhaltenden, verheerenden Krieg beendet hat,
- und auch das “Zeitalter der Religionskriege” in Europa. Die “althergebrachte Konfession” des jeweiligen Landes wurde geschützt – gegebenenfalls auch gegen den eigenen Landesherren (das jeweilige Bekenntnis, das 100 Jahre vorher, als die Reformation noch jung war, von den damaligen Landesherren durchgesetzt wurde).
- Und schließlich waren die Kriege damals nicht so total (und totalitär) wie im 20. Jahrhundert.
Diese Punkte mögen dem norwegischen Politikwissenschaftler gereicht haben
- nicht aber seinem Geschichte studiert habenden Rezensenten aus Österreich.
Zunächst zur “Abgrenzung”: Wenn der Begriff “Prinzipien des Westfälischen Friedens” historisch überhaupt einen Sinn macht, dann für die etwa 150 Jahre danach, also bis zum “Wiener Kongress” bzw. den “Koalitionkriegen”.
Westfälischer Friede, realhistorisch
Man muss für diesen Zeitraum aber in Erinnerung rufen:
- Erstens war dieser mitnichten eine “friedliche Epoche” – multipolar ja, friedlich nein. Stichwortartig sollen in diesem Zusammenhang nur der Spanische Erbfolgekrieg und der Siebenjährige Krieg erwähnt sein. Es gibt da noch viel mehr, mit dem z.B. russische Historiker aufwarten könnten, aber dieser Eintrag soll ja nicht in eine Geschichtestunde ausarten.
- Es ist korrekt, dass sich damals ein “multipolares internationales System” gebildet hat, aber – zweitens – eines, in dem nur die Mächtigen der starken Staaten das Sagen gehabt haben (Scheinverhandlungen hat es schon damals gegeben); also “von Gott begnadete Fürsten” in Kontinentaleuropa und parlamentarisch bevollmächtigte Personen (idR Adelige) in England bzw. im UK.
- “Bestandsgarantie” gab es, drittens, nicht einmal für herrschende Dynastien – und auch nicht für “deren Staaten”. Spanien und Schweden, die zur Zeit des 30-jährigen Kriegs (auf verschiedenen Bühnen) noch eine bedeutsame Rolle gespielt haben, sind in dieser Epoche ab-, UK und das zaristische Russland dagegen aufgestiegen. Auch Preußen war eine ähnliche neue Macht, sehr zum Leidwesen von “Kaiserin” Maria Theresia (das habsburgische Österreich war eine “alte Macht”).
- Und schließlich hat es eine erste “Entkolonialisierungswelle im Westen” gegeben. Dabei verlor Frankreich seine Gebiete östlich des Mississipi zunächst an England, das freilich 40 Jahre später wesentliche Kolonien an die neu entstehenden USA abgeben musste. Dass die Americas südlich des Rio Grande selbstständig wurden, passierte zwar erst 50 Jahre “zu spät”, der Vorgang gehört IMO aber auch zu besagter “erster Entkolonialisierungswelle im Westen”, die von der neuen Regionalmacht im Norden der Hemisphäre unterstützt wurde (die zweite Welle in Asien und Afrika fand erst 100 – 200 Jahre später, nach dem zweiten Weltkrieg statt).
- All das hat auch wenig mit “Stabilität”, “Konservatismus” und sonstigen Eigenschaften zu tun, die Westfälischer Multipolarität zugeschrieben werden – nicht historisch und, wie zu befürchten steht, auch künftig nicht.
Kurzum: Die historisch fassbaren souveränen Staaten Europas nach dem Westfälischen Frieden, mehrheitlich merkantilistische Kolonialstaaten, haben alle wichtigen Sachen diskret untereinander verhandelt
- wenigstens, solang’ ihnen weder Gewalten von außen noch die eigenen Untertanen “in die Suppe gespuckt haben”.
Unser norwegischer Autor verzapft noch eine Menge anderen Schmonzes zum Beispiel über die BRICS, aber man muss Diesen lassen, dass die zweite Hälfte seines Buches über die Ukraine, Russland und den “Westen” lesenswert und weitestgehend richtig ist.
(Die BRICS, die jetzt schon eine ganze Weile schaustellern, sind ein eigenes Thema, zu dem hier und hier schon einiges gesagt wurde. Sie haben jetzt zwei neue Ausreden, warum es noch immer keine gemeinsame Währung gibt, nämlich “BRICS-Erweiterung” und “fehlende Zentralbank”. Wenn sie wirklich ein “sound money” haben wollten, hätten sie das in den vergangenen 15 Jahren hinkriegen müssen).
“Warum der Westen nicht gewinnen kann”
Fadi Lama, ein Techniker offenbar arabischer Herkunft, hat gegenüber Diesen den Vorteil, dass er (dichte) Energie mit einbezieht
- und das ist etwas, was ihm hoch angerechnet werden muss. Dass die reale Güterproduktion direkt von der zur Verfügung stehenden Energie abhängt, ist auch in Kreisen nicht selbstverständlich, die Marx (und damit dessen Arbeitswerttheorie) in Ehren halten.
Lama scheint zu diesen Kreisen zu gehören, denn geschätzt 80 Prozent seines Buchs weisen ihn als Spät-Leninisten aus, für den primär der (erfolgreiche) bewaffnete Kampf gegen “alte Regime” zählt,
ein Kriterium, das er (unter den “großen Staaten”) nur in den sg. RIC-Ländern als gegeben ansieht (Russland, Iran, China).
Dass das in R. mit bolschewistischer “Revolution” und Bürgerkrieg vonstatten gegangen ist, hält Fadi eher unter der Tuchent (wie der alte Kreisky gesagt hätte),
wohl weil das noch immer nicht so gut “rüberkommt” (Mao und Khomeini sind in der Bezugsgruppe dagegen anscheinend ok).
Lama ist ein schwieriger Fall – insofern, als bei seinem Text schwer zu beurteilen ist, wo der Techniker aufhört und der Leninist anfängt.
Ein paar Punkte stellt der Autor ganz oder beinahe ganz richtig dar, wie beispielsweise
- eben die enge Korrelation von Güterproduktion und Primärenergieeinsatz (Koeffizient: 0,99; siehe z.B. Kapitel 3 “Energy: The Lifeline of Nations”),
- die marginale Rolle der “Renewables”, die bei der Stromerzeugung genauso, wenn auch nur in verkleinertem Maßstab stimmt wie bei der Primärenergie,
- und wohl auch bei den sg. Bretton Woods-Institutionen wie z.B. dem IWF. Bretton Woods selbst ist freilich bereits ein Grenzfall, als nicht entsprechend dargestellt wird, dass die erste Phase, oder besser: das originale Bretton Woods eine Bindung der Reservewährung US-Dollar an Gold beinhaltete, die abgeschafft wurde, als der vorhersagbare Schwund an US-Währungsgold zu groß wurde. Wäre Letzteres nicht passiert, hätte es auch keine Entfesselung der Fiatwährungen gegeben – namentlich des Dollars -, was etwa die andernorts beklagten IWF- Missbräuche gegenüber vielen “Dritte-Welt-Staaten” ebenso begrenzt hätte wie ein “oil pricing as geostrategic tool” (um von der Dollar-Erzeugung durch Treasury und Fed gar nicht zu reden, von der auch die Volksrepublik ordentlich profitiert hat).
Auf der anderen Seite stehen Dinge, die der Autor willentlich oder unwillentlich falsch oder unvollständig darstellt. Auch bewusste Desinformation würde ich nicht ausschließen.
Das beginnt beim Verschwurbeln von Energie und Strom, was zumindest bei einem Techniker seltsam anmutet. Man sieht das u.a. am Hin-und Herhüpfen zwischen Tonnen Öl-Äquivalenten (Primärenergie) und Kilowattstunden (Strom; Elektrizität macht bekanntermaßen nur ein Fünftel des Endenergieverbrauchs aus).
Besonders lächerlich wird’s beim letztlich eher rohstoffarmen China (historisch ca. 4 Millionen Barrel pro Tag eigene Ölförderung).
Die Volksreublik ist in der Welt according to Fadi ein “genuin souveränes Land” , das sich seine Unabhängigkeit mit einem bewaffneten Aufstand erkämpft hat – während das pseudo-souveräne Indien vom Empire mit Souveränität bedacht worden sei
(weswegen Indien allen möglichen Diktaten ausgesetzt sein soll).
An Lama scheint u.a. vorbeigegangen zu sein,
- dass China seine rasante Industrialisierung nicht nur einer Menge US-Dolores und eigener Aufschuldung verdankt, sondern auch “zentrumsnaher Kohle Marke Eigenabbau”, die nun zunehmend mühsam aus Xinjiang oder der Inneren Mongolei angekarrt werden muss. Wie für die zu Kriegstreibern gegen Russland mutierten ehemaligen “Ökopaxe” ist Kohle für Fadi überall “schmutzig” und “klimaschädlich”- nur halt nicht in der “Dritten Welt” bzw. in China. Am besten ist, man erwähnt die ganze üble Chose nicht, dann bemerkt’s vielleicht niemand.
- Nicht erwähnt wird z.B. auch der zurück gehende Primär-Energieeinsatz ( ≠ Stromproduktion) bei den G7 und allen möglichen anderen “westlichen”, auch östlich gelegenen “westlichen” Ländern. Neben diversen Buchhaltungs-Tricks scheint das u.a. eine Folge des Kyoto-Regimes zu sein, dessen Vorgaben die G7-Politicos zu erfüllen trachten, weil sie entweder a) Verräter sind oder b) weil die lokalen Klima-Trottel ihnen die Hölle heiß machen. China bzw. die “RICs” mussten und/oder wollten nix gegen die GHG-Emissionen tun.
In seinem letzten Kapitel über das “End of Empire” führt Lama noch einmal seine Argumente vor, “warum der Westen nicht gewinnen kann” und sein diesbezügliches Kronjuwel, der key performance indicator der Macht des Empires ist die Verfügbarkeit von Energie,
was – wie gesagt – ein guter Ansatz ist, theoretisch.
Das Problem ist “nur”, dass die in Tonnen Erdöl-Äquivalente umgerechneten Öl-und Gasreserven als Indikator praktisch wertlos sind, was sich anhand der venezolanischen Phantom-Reserven am besten zeigen lässt, deren Anerkennung Hugo Chávez vor etwa 15 Jahren erfolgreich betrieben hat.
Um diese Milliarden Papier-Barrel in Form von feststofflichem Naturbitumen zu “verwerten”, müsste man
- “lediglich” eine Abbau-Operation im Dschungel organisieren,
- das gewonnene Material möglichst kostengünstig abtransportieren
- und Raffinerien so umrüsten, dass aus dem Asphalt Flüssigtreibstoff gemacht werden kann.
Das alles mag noch eine Weile im Bereich des technisch Machbaren liegen, sobald der wahre Wert von Benzin und Diesel erst einmal anerkannt ist
– nur eins ist klar:
Otto und Grete Normalverbraucher werden sich die so gewonnenen Produkte nicht mehr für’s Autofahren leisten können.
Und das gilt wahrscheinlich auch für jene abbaubaren Papier-Barrel, die Russland und der Iran noch im Boden haben.
Nicht vorhandene bzw. nur bedingt zugängliche Reserven mögen “das Empire” schwächen – dessen Feinde aber auch.
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