Ein Dschungel aus “Erdgas-Lügen” 2

Bruttoimporte_D_N-to_Oct-bearbeitet
Q: BNetzA, eigene Hervorhebung

 

Die frühere Erdgas-Drehscheibe BRD, zu der heute zwei voneinander unabhängige Daten-Sets vorliegen (AGSI, BNetzA), leidet an einer mysteriösen, schleichenden Gas-Verknappung, die auch – aber nicht nur – auf den Ukraine-Krieg und die diesem folgenden Selbstmord-Sanktionen zurückzuführen sind. Denkt man zu kurzfristig, trifft eher das Gegenteil des zuerst Vermuteten zu (kein russisches Gas = Deindustrialisierung Deutschlands). Die Nettoimporte nach D. sind nämlich in einem Zeitraum besonders stark gefallen, als laut BNetzA die RF schon ein gutes halbes Jahr kein Gas mehr geliefert hat.

Folgende Tabelle ist die Fortschreibung und Erweiterung einer hier erstmals publizierten Zusammenstellung um fünf Wochen 

- zur Erläuterung der Tabellenstruktur siehe den Eintrag vom 23. September.

Die beiden letzten Zeilen des aktuellen Überblicks bestehen aus Neukalkulationen der letzten September bzw. ersten Oktober-Woche (der 1. fiel auf einen Sonntag) sowie der neuesten BNetzA- bzw. AGSI-Daten von KW 42-23 (Woche bis 22. Oktober).

Die “alten” Werte wurden übernommen und nicht noch einmal rechnerisch überprüft.

Deutsche_Nettoimporte_incl_KW42_23_master_beatbeitetDie Entwicklung der vergangenen fünf Wochen zeigt eine Erholung der Bruttoimporte, nach einem auffälligen Einbruch der norwegischen Pipeline-Lieferungen Mitte September.

Aus welchen Gründen immer dieser erfolgte – die norwegischen Lieferungen kehrten in kürzester Zeit wieder auf das “alte Niveau” zurück,

was in der “über dem Falz”zu besichtigenden, naiven Bruttobetrachtung zunächst so wirkt, als wäre der “Status quo ante” erneut hergestellt.

In einer Betrachtung der Nettoimporte (Bruttoimporte minus Gasexporte) sieht das definitiv anders aus.

Wie die Tabelle zeigt, kehrte der Gaszufluss für deutsche Businesses und Haushalte Anfang Oktober 2023 etwa auf das Niveau zu Beginn des Jahres zurück

- nur dass

  • die 42. Kalenderwoche in einem spätsommerlichen Herbst und die erste Kalenderwoche zu Jahresbeginn 2023 spielt.
  • Es ist korrekt, dass die rund 1.000 GWh/d, die Deutschland zwischen Jahresbeginn und September 2023 weniger zugeflossen sind, nun größtenteils wieder “draufgeschlagen” wurden. Offen bleibt freilich,
  • warum die oben dokumentierte Reduzierung der deutschen Nettoimporte um 40 Prozent “in the first place” überhaupt stattgefunden hat  -
  • in einem Zeitraum, in dem höchstens noch marginale Mengen russischen Gases nach Deutschland gesickert sind, über die “Südschiene” entweder via Österreich/Baumgarten oder die TurkStream oder halt mittels LNG-Schiff;
  • in einer Periode also, in dem nach Darstellung der BNetzA höchstselbst von “Russen-Gas” über Nordstream 1 bzw.  die Route Ukraine-Slowakei-Tschechien schon lange keine Rede mehr sein konnte (dass auch auf österreichischem Territorium liegende Speicher bzw. Durchleitungen keine Erklärung bieten,  zeigen die von der BNetzA selbst publizierten sporadischen und  geringfügigen deutschen Importe aus der östlichen Alpenrepublik).
  • Die einzigen diesem Blogger einfallenden “relativ harmlosen Erklärungen” für ein solches Verhalten von deutscher Seite wäre die leichtfertige Annahme, dass a) auch der Winter 2023/24 mild ausfallen werde und/oder b) die Deindustrialisierung des Landes sowieso weitergehen oder gar an Tempo gewinnen werde.

Die hier so genannte Deindustrialisierung Deutschlands macht sich u.a. in der Gas-Nachfrage durch die inländische Industrie bemerkbar, die von der BNetzA in einem fortlaufenden interaktiven Chart übrigens gut dokumentiert wird.

Die Grafik, deren Daten mittlerweile September erreicht haben, zeigt übrigens Monat für Monat ein Minus von rund 20 Prozent im Jahresabstand

- fast noch weniger in den Winter- als in den Sommermonaten.

Deindustrialisierung

Nun könnte man einwenden, dass der Gasverbrauch der Industrie ein wenig auch von der Jahreszeit beeinflusst wird

und dass in den Konsum der Firmen aus dem produzierenden Sektor auch die Heizung bzw. Klimatisierung von Maschinenhallen und Büros einfließen

- und das mag im Winter in Nord- und im Sommer in Südeuropa eine kleine Rolle spielen.

Aber man darf getrost annehmen, dass der Löwenanteil des in der Industrie verbrauchten CH4

  • entweder der Erzeugung von Prozesswärme dient,
  • oder irgendwie aufgespalten und weiter verarbeitet wird (z.B. bei der Herstellung von Stickstoffdünger).

Vorbehaltlich der oben gemachten Einschränkungen weisen die meisten Industrien aber einen kontinuerlichen Produktionsprozess und eher geringe Saisonalität auf, sodass die durchgängig stark fallende Nachfrage in der produzierenden Wirtschaft winters wie sommers

nicht bzw. nur in wenigen speziellen Fällen von den (erwarteten) Witterungsumständen beeinflusst werden wird,

Nettoimporte: Zeitlich verschoben, stark rückläufig

Wie aus der obigen Nettoimport-Tabelle hervorgeht, war der unmittelbare negative Einfluss des Ausbleibens der russischen Gas-Exporte nach Deutschland zunächst überschaubar:

In der ersten Kalenderwoche 2022 (in der mit baldigem, massivem Heizbedarf gerechnet werden musste) betrugen die deutschen Nettoimporte noch gut 2.700 GWh pro Tag

- ein Wert, der bis zum Herbst dieses Jahres auf “nur” etwa 2.300 GWh/d fiel,

um sich bis zur Jahreswende ’22/23 gar wieder auf 2.500 GWh/d zu erholen.

Das wiederum hat unter Entscheidungsträgern und vielleicht auch in der Öffentlichkeit zu einer unbegründeten Sorglosigkeit geführt, die vom weiteren milden Winterwetter noch bestätigt wurde.

Wenn das Ausbleiben der russischen Erdgaslieferungen nicht mehr zur Folge hatte als einen Rückgang der deutschen Nettoimporte um ca. 10 Prozent

- was sollte dann das ganze Geschrei?

Waren nicht vielleicht doch Mehrlieferungen aus Norwegen das Geheimnis des plötzlichen Zuflusses an Erdgas, wie auch dieserBlogger (anfangs) irrtümlich glaubte?

Fehlanzeige.

Wie wir heute wissen, hat N 2022 seinen Ergasexport nach Europa nur wenig erhöht (ca. 3 Prozent), die US-Amerikaner den ihren aber um mehr als 100 Prozent, nämlich um gut 40 Mrd. Kubikmeter (als LNG),

hauptsächlich in der zweiten Jahreshälfte.

Vermutlich wegen der Explosion in der LNG-Anlage in Freeport ist die amerikanische LNG-Ausfuhr  2022 zwar um nur 9 Prozent gestiegen, aber massiv von Asien nach Europa umdirigiert worden.

Die (regasifizierten, also”normalen”) 40 Mrd. m3 von Onkel Sam machten im vergangenen Jahr jedenfalls den Lieferausfall von russischem Pipeline-Gas mehr als wett, der nach den Zahlen der EI/BP Statistical Reviews von 2022 und 2023  ja nur gut 30 Mrd. m3 betrug,

schließlich ging es damals ja nur um ein halbes Jahr seit Juni 2022 und die Pipelines der “Südschiene” liefern ja bis heute.

Zusammen mit dem geringen Heizungsbedarf der Wintermonate 2022/23 entstand im Frühjahr der – damals zutreffende – Eindruck,

dass Europa gewissermaßen in Erdgas schwimme.

Dieser Eindruck besteht bis heute.

***

Was am Ende der vergangenen Wintersaison aber richtig sein mochte, stimmt heute, vor Beginn einer neuen Heizsaison aber nicht mehr.

Äußerst faszinierend ist jedenfalls, über welche Mechanismen der alte, heute falsche Eindruck bis zum Beginn der neuen Heizsaison prolongiert werden konnte.

Da spielen sogar so arkane, eigentlich öffentlichkkeitsferne Gruppen wie (“konträre”) Commodity-Trader eine Rolle, die auf einen weiteren Preisverfall in Europa setzen,

weil die hiesigen Kavernen – wie jedes Jahr -  am Beginn der neuen Heizsaison voll sind

(und es ist in diesem Zusammenhang völlig wurst, dass der bisherige Jahresbedarf Europas das Drei- oder Vierfache seiner Speicherkapazität ausmacht).

Diese Leute werden von der Jouraille in der Regel als Spekulanten bezeichnet, die für alles mögliche, speziell Hungersnöte, verantwortlich gemacht werden

- was freilich nicht der Fall ist, sobald

“Spekulanten” zur richtigen Zeit das vermeintlich Richtige glauben – dass Europa nämlich in Gas schwimme (was – wie man hier behaupten könnte – “ja ‘der Markt’ beweist”)

Für die allgemeine Öffentlichkeit sind vermeintlich vertrauenswürdige Experten  trotzdem wichtiger, vor allem, wenn sie von vermeintlich vertrauenswürdigen Journos interviewt werden. In dem Fall wird idR derart zur Entwarnung geblasen, dass dem Hofrat Beschwichtel ganz warm um’s Herz würde.

Und weil die Story schon von Anbeginn fest steht, sind Fakten auch eher egal, wie zum Beispiel der Umstand,dass sich durch den Wegfall des bisher größten Gasversorgers

  • fundamental was geändert hat und
  • dass der seit Mitte vergangenen Jahres eingesetzte “Notnagel” seine Exportleistung nach Europa noch einmal mehr als verdoppeln müsste, um einen ganzjährigen Ausfall der russischen Lieferanten zu kompensieren.

Wäre man ein aktiver MSM-Journo, könnte man sich beispielsweise fragen,

was die folgende auf AGSI-Daten beruhende Tabelle zu bedeuten hat, speziell die über das Sommer-Halbjahr schwindende Differenz der heurigen mit den letztjährigen Speicherwerten.

Erdgasspeicher-D_Sommersaison_2023_bearbeitet(dieser Blogger vermutet, dass es etwas mit mangelnden Zuflüssen über das Sommer-Halbjahr zu tun hat).

Oder man könnte sich gleich ein Bild von der shale gas revolution in den USA machen, die für Europa mittlerweile ja mindestens genauso wichtig ist wie Export-Terminals.

Aber das ist wieder eine andere Geschichte…

 Grafik: bundesnetzagentur.de

Unabhängiger Journalist

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.